Zur älteren Judith

Eduard Sievers

pp. 163-190


1Vor etwa zwölf Jahren wurde meine Aufmerksamkeit durch einen Zufall auf das Auftreten gewisser musikalischer Kons­tanten in der literarisch geformten menschlichen Rede gelenkt, in denen ich dann bald einen wie ich glaube nicht unwichtigen Faktor auch für die philologische Kritik erkennen lernte.2 Seitdem habe ich den Gegenstand nicht aus den Augen verloren, und mich einerseits bemüht, meinen Gesichts­kreis nach verschiedenen Richtungen hin zu erweitern, andrerseits ein möglichst reichhaltiges und einwandfreies Beobachtungsmaterial zu sammeln, das ohne Bedenken einer schon frühe ins Auge gefaßten eingehen­deren Behandlung der ganzen Frage zu­grunde gelegt werden könnte. In letzterer Beziehung haben [180] mir insbesondere auch die Übungen unseres Leipziger Pro­seminars und Seminars willkommene Gelegenheit geboten, in denen, mochte es sich nun um gemein­schaftliche kri­tische Lektüre oder um die Besprechung speziellerer Ar­beiten handeln, regelmäßig, wo es die Sache an die Hand gab, auf die innigen Beziehungen zwischen der durch gegenseitige Beobachtung und Ausgleichung festzustellenden Vortragsform und der Text­gestaltung eingegangen wurde.

Die gemeinsame Wanderung durch verschiedenartige Gebiete deutscher Dichtung des Mittelalters hat uns auch, wie ich glaube, manchen gesicherten Erwerb im einzelnen eingetragen, jedenfalls aber im Kreise der Teilnehmer die Überzeugung gefestigt, daß sich jene im lebendigen Vortrag hervortretenden Formkonstanten bei sorgsamer Arbeit mit aller nur wünschens­werten Sicherheit wirklich erkennen lassen, und daß sie in der Tat ein Hilfsmittel der Kritik darbieten, das oft auch da noch Resultate ab­wirft, wo andere Hilfsmittel versagen.

Wie man mit diesem Hilfsmittel in praxi arbeiten kann, möchte ich, da bis zum Abschluß der geplanten umfassenderen Dar­stellung immerhin noch geraume Zeit vergehen wird, heute an einem beliebig herausgegriffenen Beispiel, dem Text der Älteren Judith, in Kürze il­lustrieren, den wir im Sommer 1907 der gemeinsamen Kontrolle unterzogen haben (eine ähnliche Unter­suchung über das Gedicht vom Rechte wird demnächst A. Hanisch vorlegen).

Vorausgeschickt sei dabei die allgemeine Bemerkung, daß für jedes zu untersuchende Gebilde (einerlei ob Prosa oder Poesie) zunächst sozusagen sein besonderer Vortrags­schlüssel zu suchen ist, und zwar durch scharfe und vergleichende Beobachtung der unwillkürlichen Reaktionen, die beim unbe­fangenen Lesen des Textes eintreten. Über die dabei anzu­wendenden [181] Methoden und besondern Vorsichts­maß­regeln im einzelnen zu reden, ist hier nicht der Ort: es muß einstweilen genügen, darauf hinzuweisen, daß die Resultate um so sicherer werden, je allseitiger man bei der Untersuchung verfährt. In erster Linie kommen dabei einerseits in Betracht das Rhythmische (einschließlich des Tempos und der Zeit­aufteilung), andrerseits Stimmlage, Stimmqualität und Melodie­führung. Für das folgende wird, denke ich, eine Hervor­hebung des Sinnfälligsten von dem genügen, was ich als den 'Vortrags­schlüssel' des Judithtextes betrachte.3

1. Am leichtesten ist im allge­meinen die Stimm­lage fest­zustellen. Man weiß ja, daß jeder unbefangene Leser einen jeden Text unwillkürlich in einer bestimmten Tonlage vorträgt, und diese gilt es festzulegen: nicht nach einem Schema absoluter Tonhöhe, sondern relativ. Denn es handelt sich immer nur darum, ob der Leser das zu prüfende Stück innerhalb des ihm geläufigen Stimmum­fangs z. B. relativ hoch, mittel oder tief usw. wiedergibt (wobei gelegentlich sehr feine Abstufungen auftreten). Wenden wir das [182] auf die Judith an, so ergibt die Probe, daß unter normalen Umständen der niederdeutsche Leser etwa die Verse

Ein herzogi hiz Holoferni,

der streit widir goti gerni

mit ziemlich tiefer Stimme spricht, tiefer z. B. als die Verse

Inclita lux mundi,

du dir habis in dinir kundi

erdin undi lufti

unde alle himilkrefti

im Lob Salomonis, und daß sich diese Angaben beim hoch­deutschen Leser in ihr Gegenteil verkehren, nach dem allge­meinen Gegensatz zwischen nieder- und hoch­deutscher Into­nation, auf den ich bereits wiederholt hin­gewiesen habe.4 Wir können danach die Judith, soweit aus den Eingangsversen ein Schluß zu ziehen ist, schon vorläufig im Groben als für den Nieder­deutschen tiefstimmig, für den Hochdeutschen hoch­stimmig be­zeichnen.

2. Bezüglich der Melodieführung fallen sodann in jenen Versen zunächst die charakteristischen Schluß- kadenzen kräftig ins Ohr. Für den Niederdeutschen enthalten sie Fallschritte, für den Hochdeutschen Steig­schritte von Hebung zu Hebung, und zwar einmal von híz zu (Olo)fér(ni) und von gó(ti) zu gér(ni), [183] sodann aber auch innerhalb des 'klingenden Ausgangs' selbst, den der Niederdeutsche als –fé·r-nì. usw., der Hochdeutsche als –fé.r-nì· usw. spricht (wobei die verschiedene Stellung der Punkte die relative Tonlage der beiden Silben andeuten möge, wie die Akzente den Abfall des Nachdrucks). Ebenso bei stumpfem Ausgang, z. B. 3,1 (nach Strophen und Zeilen des unten folgenden Textes) Do sazzer drumbi, da·z is wa.r, | mer danni ei·n ja.r (bzw. umgekehrt), usw.

3. Verfolgt man diese Tonschritte auch nach dem Eingang der Verse zu, so ergibt sich, daß die erste He­bung für den Nieder­deutschen etwas tiefer liegt als die zweite, und daß von dieser wieder ein Abstieg zur dritten und vierten beginnt: das all­gemeine Schema ist also für den Niederdeutschen etwa durch · ˙ · . auszudrücken, für den Hoch­deutschen durch · . · ˙ (abgesehen natürlich von der Verschiedenheit der Tonlage, die sich hier nicht gut graphisch ausdrücken läßt).

4. Nach einem weitreichenden, wenn nicht geradezu allgemein gültigen Kontrastprinzip liegt ferner der etwa vorhandene Auf­takt für den Niederdeutschen höher als die tiefe (für den Hochdeutschen tiefer als die hohe) erste Hebung.

5. Sämtliche Tonschritte sind übrigens relativ klein (vgl. etwa die viel größeren Intervalle beim Ludwigs­lied), und die Tonreihe der vier Hebungen (klingenden Ausgang als zweihebig gerechnet) wird als einheitliche Folge empfunden, nicht als eine gespaltene Gruppe von 2+2 Tönen, in deren Unterabteilungen die beiden auf je eine Hälfte entfallenden Töne enger miteinander ge­bunden wären. Die Verse sind also bezüglich der Melodie­führung als podisch (oder monopodisch) zu bezeichnen, nicht als dipo­disch gegliedert (vgl. dazu Metr. St. [Nr. 7, Fußn.] 1, 56 ff.). [184]

6. Ganz Ähnliches gilt in dynamischer Beziehung. Der eigent­liche Schwerpunkt des Verses liegt regelmäßig auf der letzten vollen Hebung, d. h. der letzten He­bung, die die Stammsilbe eines einfachen Wortes trifft. Diese Regel wird allerdings, äußerlich betrachtet, ein paar­mal durch Ausgänge wie burgari 4, 5 (s. unten Nr. 28 zur Stelle), kamirari 7, 5 durch­brochen. Aber da ist sicherlich mit dynamischer Ver­schiebung (schwebend) bùrgári, kàmirári zu betonen, denn eine Betonung wie búrgàri, kámiràri würde jeweilen die erste Hebung aus den sonst eingehaltenen Tonhöhengrenzen weit hinaus­drücken (für den Niederdeutschen nach oben, für den Hochdeutschen nach unten), also Tonschritte von einer Größe ergeben, die sonst in dem Gedichte nicht vorkommt (siehe oben unter Nr. 5). Bei Annahme der schwebenden Betonung kommt dagegen auch die Versmelodie alsbald in Ordnung.

7. Die übrigen Hebungen sind unter sich und im Verhältnis zu der eben erwähnten schweren Hebung gegen den Schluß des Verses hin auch dynamisch etwas abgestuft; aber doch nur wenig. Man nivelliert unwill­kürlich, soweit es angeht, auch wo eine Hebung auf eine sprachlich mindertonige Silbe fällt (vgl. etwa des Kontrastes halber wieder den Vers Ein hérzogi híz Holoférni mit dem lebhaft abgestuften èinan küninc uuéiz ìh des Ludwigs­liedes). Dazu fehlt wieder jede deutliche Spur dipo- discher Bindung. Das läßt sich leicht auch durch einen Blick auf die sprachliche bezw. psychische Gliederung des Textes erhärten. Das „dipodisch“ (bezw. nach den fünf Typen) abge­stufte Ludwigslied hat in jeder Zeile einen psychischen Bruch5, der an der betref­fenden Stelle [185] innerhalb ge­wisser Grenzen ein (rhe­torisches) Pausieren gestattet; vgl. z. B. (͡ sei ein Bin­dungszeichen für den Vortrag):

Einan ͡ kuning | uueiz͡ ih, Heizsit her | Hluduig,

Ther gerno | gode ͡ thionot: Ih uueiz | her imos lonot:

eine Dreiteilung an Stelle der bezeichneten (Zweiteilung würde da geradezu absurd wirken. Umgekehrt zeigen die meisten klingend ausgehenden Verse der Judith, ähnlich betrachtet, ohne weiteres eine klare Dreiteilung, also zwei „Brüche“. Vgl. z.B.

Ein ͡ herzogi | hiz | Holoferni

der ͡ streit | widir ͡ goti | gerni

(man versuche es zur Gegenprobe etwa einmal mit Ein ͡ herzogi | hiz ͡ Holoferni, || der ͡ streit ͡ widir ͡ goti | gerni || oder einer beliebigen andern zweiteiligen Kombination: jede wäre sinnwidrig, und würde überdies den oben be­schriebenen Melodietypus gründlichst ruinieren). Ähnlich bei vierhebig stumpfen Versen mit letztem Iktus auf einer sprachlich schwächer betonten Silbe, wie ein heri | michil undi | vreissam 1, 2, ich gisihi | ein wib | lussam 7, 3, oder da bisazzir | eini burc du heizzit | Bathania: || da slugin | du sconi | Juditha 2, 7 f. Bei stumpfem Ausgang und letzter Hebung auf volltoniger Silbe steigert sich die Zahl der Brüche sogar gewöhnlich auf drei, vgl. z. B. er hiz | di alliri | wirsistin | man 1, 3, do sazzer | drurnbi, | daz is | war || mer | danni | ein | jar 3, 1 ff., nu | giwinnit uns | eini | vrist, || so lanc | so undir | drin tagin | ist 5, 3 f. usw.6 Hat man [186] einmal diese Mehrzahl der Brüche (zwei oder drei) an den vielen eindeutigen Versen als ein wesentliches Element des Versbaues der Judith empfinden gelernt, so wird sie einem sehr bald auch aus den Versen entgegen­springen, wo man sonst schematisch allenfalls an eine bloße Zweiteilung denken könnte (dafern man nämlich wieder­um die bei dieser Aufteilung unvermeidlichen Störungen der Melodie ignorieren wollte). Man wird dann also z. B. 2, 1 im Zusammenhange nicht dipodisch- zweiteilig Oloférni | dò giwán zu lesen geneigt sein, sondern (getragener, feierlicher) als Ólo-férni | dó | giwán, ebenso 2, 4 der héidin | mánic | túsùnt, 2, 6 dúrch du | gótis | lástìr, 11, 3 do || gí su | vállin | án diz | grás, || su bétti | áls | ir | was usw.

8. Sieht man etwas schärfer zu, so wird man leicht noch einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen den „Brüchen“ im Ludwigslied und in der Judith heraus­finden. Beim Ludwigslied kann man an den bezeichneten Stellen eine rhetorische („tote“) Pause machen, ohne den Sinn zu stören, aber man wird es doch im zusammen­hängenden Vortrag tatsächlich nicht leicht tun, weil man unwillkürlich auch über die Bruchstellen hinweg weitergerissen wird: man wird vor der Bruchstelle viel­leicht etwas aushalten oder überdehnen, um den Einschnitt zu markieren, aber jedenfalls die ganze Fuß­zeit lautend ausfüllen, gewissermaßen also die ganze Halbzeile legato sprechen. Dem gegenüber sind die „Brüche“ in der Judith so deutlich, daß man, wenn auch nicht überall, so doch an sehr vielen Stellen mit der Stimme bzw. der Exspiration wirklich absetzen, also wirklich pausieren muß, will man den Vers nicht ganz verzerren und doch einigermaßen im Rhythmus bleiben.7 In der zweiten Zeile steht z. B. dem [187] zweiten Fuß streit widir als dritter Fuß bloßes goti gegenüber, und das kann man, ohne der Sprache Gewalt anzutun, sicherlich nicht auf das Zeitmaß jenes streit widir überdehnen: die fehlende Zeit aber wird eben durch jene (nicht mehr 'toten', sondern nun „rhythmischen“) Pausen8 eingebracht. Der Vortragstypus hat also ausge­sprochenen Staccato-charakter.

9. Das hängt nun abermals mit einem neuen und wieder sehr wesentlichen Merkmal der Verse unseres Ge­dichtes zusammen, die man etwa als spondaisierende Verse bezeichnen kann. Um diesen Begriff klarzulegen, muß ich etwas weiter ausholen.

So lange der deutsche Reimvers noch gesungen wird, entfallen auf den einfachen Fuß bei dem vorauszusetzen­den geraden (4/4)Takt vier Moren oder χρόνοι πρωτοι, auf die Einzelsilbe des zweisilbigen Fußes also im Gesang im Durchschnitt zwei Moren. Das ist aber ohne Zweifel mehr an Zeit, als bei ge­wöhnlichem Sprechtempo der einzelnen Silbe oder dem Silben­paar zugemessen zu werden pflegt. Man muß also schon beim zweisilbigen, noch mehr aber bei dem nur einsilbigen Fuß im Ge­sang dem Sprechvortrag gegenüber etwas dehnen. Der Sprechgewohnheit aber ist eine solche Überdehnung zu­wider, und darum geht die Entwicklung des vom Gesang abgelösten Sprechverses darauf hinaus, durch ein andere Art von Vers­füllung wieder mehr die natürlichen Quan­titäten der Sprech­silben (bzw. der Gruppen von solchen) zur Geltung zu bringen. Wo dies Ziel erreicht ist, hat also der zweisilbige [188] Normalfuß nicht mehr das ge­steigerte Zeitmaß von | ´ __ | (= | Q Q |, den χρόνος πρωτος als E gerechnet), sondern nur noch das Durch­schnittsmaß von | x' x |, d. h. der Zeit, die man, kurz und lang in eins gerechnet, bei normalem Redetempo durch­schnittlich für zwei gewöhnliche Sprechsilben braucht. Kommen in einem Gedicht dieser Art einmal Füße von mehr als zwei Silben vor, so muß das Sprechtempo an dieser Stelle beschleunigt werden, damit die drei Silben (um mehr handelt es sich ja nur ausnahmsweise) nicht mehr Zeit verbrauchen als sonst im Durchschnitt auf zwei Silben entfällt (vgl. dazu Metr. Studien 1, S. 47).

10. Die Gangart der hier beschriebenen Gattung von Versen kann als leicht bezeichnet werden, weil sie an die natürlichen Zeitverhältnisse der gesprochenen Rede anknüpft, und jeden­falls nirgends gegen den Sinn geschleppt wird. Leicht in diesem Sinne sind z. B. Verse wie

Ein ritter so geleret was

daz er an den buochen las

swaz er daran geschriben vant.

Nach solchen Mustern kann man aber die Verse der Judith nicht lesen, ohne ins Groteske zu verfallen. Für sie muß man vielmehr, wenn man sie überhaupt deklamieren will, eine viel schwerere Gangart wählen, d. h. die Fußzeit von vorn herein größer nehmen als beim gewöhnlichen Redetempo, und sie so dem spondeischen (viermorigen) Gesangsmaß | ´ _ | 9 mindestens annähern. Verse dieser Art sind aber sicherlich unter dem Einfluß einer vorgestellten gesteigerten Fuß­zeit des Maßes |entstanden (ob sie für den Ge­sang oder den Sprech­vortrag bestimmt [189] waren, ist für unsern Zweck gleichgültig), und darum kann man bei ihnen cum grano salis auch wohl direkt von „spondaisierenden“ Versen reden.

11. Für diese Versgattung ist nun zweierlei charak­teristisch. Einmal können bei dem größeren Ausmaß der Fußzeit mehr­silbige Füße viel leichter im Rahmen des Verses unter­gebracht werden als in den Versen der leichteren Gangart. Selbst bei viersilbigen Füßen entfällt ja nach dem Gesagten auf jede Einzelsilbe immer noch annähernd die Zeit eines χρόνος πρωτος. Es liegt also von dieser Seite her bei unserem Gedicht auch gar kein Anlaß vor, an Versen wie 2, 2 ein || heri | michil undi | vreis- | sam, 2, 7 da bi- || sazzir eine | burch du heizzit | Bathani- | a, 5, 6 losi | uzzir dirri | no- | ti, 6, 8 undir di | heidinischi | meni- | gi, 9, 4 daz du, || kuninc, mich zi | wibi | nemin | solt usw. (1, 5. 6. 2, 5. 7, 8. 8, 1. 12, 1. 2. 8) irgendwie herumzukorrigieren10: im Gegenteil, jede Ver­kürzung der viersilbigen Füße würde wieder die Versmelodie stören.

12. Auf der andern Seite leuchtet es von selbst ein, daß es unnatürlich wäre, beim Sprechvortrag solcher Verse, die nur mit Silben oder Wörtern geringen sprach­lichen Zeitausmaßes be­setzten Füße mittelst Überdehnung an dieser oder jener Stelle wirklich lautend auszufüllen, also etwa in 1, 4 sinin | siti | ler- | nan, 2, 4 der || heidin | manic | tu- | sunt, 2, 6 durch du | gotis | [190] las- | tir u. ä. die Wörter siti, manic, gotis usw. auf das volle Zeitmaß schwerbesetzter Füße zu bringen. Statt dessen läßt man eben zur Zeitausfüllung unwillkürlich die er­wähnten rhythmischen Pausen eintreten, und diese sind es wieder, die auch den Versen der Judith beim Vortrag den Staccatocharakter aufprägen. Bemerkt sei übrigens, daß solche rhythmischen Pausen nicht nur bei Füßen der sprachlichen Form ͜ ´ x oder ´ , sondern auch bei solchen der Form ´ x auftreten können, und selbst bei solchen der Form ´ x x. Zum letzteren Fall vgl. z. B. gleich wieder 1, 2 der || streit ¦ widir | gote | ger- | ni: hier wird widir proklitisch zum Folgenden gezogen und dadurch so stark verkürzt, daß nach streit für die (hier durch ¦ bezeichnete) rhythmische Pause Raum wird. Hinter einem viersilbigen Fuß kann dagegen nur eine tote Pause eintreten.

13. Die im Vorstehenden beschriebene Art der Versbildung geht nun aber — und hier kann endlich die Kritik einsetzen — nicht durch den ganzen überlieferten Text der Judith durch. Zwar begegnen in jeder Strophe (außer 4a) Zeilengruppen dieser Bildungs­art, in vielen Strophen stehen aber daneben Zeilen­gruppen, die einen ganz andern Typus aufweisen. Rein sind (bei geringfügiger Nachhilfe an wenigen Stellen, worüber unten Genaueres) nur die vier 8-zeiligen Strophen 2—4 und 11, sowie die nur 4-zeilige Strophe 8, hinter der augenscheinlich ein Textverlust eingetreten ist. Wo aber die Zeilenzahl einer Strophe über 8 hinausgeht, da macht sich jedesmal auch ein fremder Typus bemerkbar, ebenso in der ganzen achtzeiligen Strophe 4a, die ihrerseits inhaltlich untrennbar mit dem Eingang der in der Über­lieferung 10-zeiligen Strophe 5 zusammenhängt. In den meisten Fällen läßt sich außerdem das in rhythmisch­melodischer Beziehung Fremdartige ohne alle Störung des Zusammenhangs derart glatt ausscheiden, daß wieder 8-zeilige Strophen übrig [191] bleiben. Ich schließe daraus, daß unser Gedicht ursprünglich in regel­mäßigen achtzeiligen Strophen abgefaßt war, und daß die wiederholten Sprengungen dieses Rahmens auf nachträglicher Interpolation beruhen.

14. Um dies Urteil im einzelnen rechtfertigen zu können, schließe ich zunächst einen Restitutionsversuch des Textes an, in den von vornherein neben den an­erkannt notwendigen Ver­besserungen (deren Urheber ich also nicht jedesmal auf­führe) gleich einige weitere kleine Korrekturen aufgenommen sind, welche die Rücksicht auf den besondern Charakter der Verse verlangt. Diese habe ich im Apparat durch einen Stern hinter der ver­worfenen handschriftlichen Lesart ausgezeichnet (auch wo sie etwa schon von dem Standpunkt eines andern metrischen Systems aus von anderer Seite vorgeschlagen worden waren). — Gleichgültige Orthographica, wie th für t, duv für du u. dgl. sind nicht angemerkt.

1.

1

Ein herzogi hiz Holofern,

der streit widir goti gerni.

er hiz di alliri wirsistin man

sinin siti lernan,

a [dáz si wàrin nídic

A

b undi nímìnni gnádich.]

A

5

daz niman uzzir iri mundi

nichéini gůti ͡ rédi vúndi,

noch †gůti antwurti,

wari mit ir scarphin swerti.

c [wázzir ùndi vúr

A

d máchin vìli tíuri.

A

α [undi sich swer dir ebreschin icht kan,

βdas iri nibilibi lebindic niman.]

e das wàs dir árgìsti líb:

B

f sit slùg in Júdìth ein wíb.]

B [192]11

2.

1

Oloferni do giwan

ein heri michil undi vreissam.

an der selbin stunt

der heidin manic tusunt.

5

er réit vérri hini ͡ wéstir

durch du gotis lastir.

da bisázzir eine búrch du heizzit Báthaniá:

da slugin du schoni Juditha.12

3.

1

Do sazzer drumbi, daz is war,

mer danni ein jar,

daz ér mit sínin knéchtin

alli tági zi der búrc gi véchtin.

5

di drinni warin,

des hungiris nach irchamin:

di darvori sazzin,

di spisi gari gazzin.13

4.

1

Do sprach Olofern

(di burc habit er gemi):

„nu hat mich michil wundir

(daz habitich gerni irvundin),

5

an wen disi burgari

sich helphi virsahin,

odir wer in helphi dingi:

si sínt nách an dem éndi.“14

[4a.]

a [Do spràch der búrcgràvi

C

b „swígint, 'Oloférni

A

c wír gilòubin àn den Críst,

E

d der [dir] gischúf állíz dàz dir ìst,

(D)

e dèr dir híz wérdin

(C)

f den hímil jòch di érdin

A [193]

g sín ist àl der értrìnc

A

h dinu ábgot sìnt ein trúgidìnc!“15

A

5.

a Dó sprach àbir éinir

A

bder sèlben búrgàri:

C

c „nu giwín uns eini vrìst, biscof ͡ Bébilìn,

(A)

d ob iz ùwiri gnádi mègin sín :]

(B)

1

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

„nu giwínnit uns éini vríst,

so lanc so undir drin tagin ist,

5

ob uns gót dúrch sini gúti

lósi úzzi dirri nóti.

ni lóser uns nícht dánni,

hi dingi swér so dir wélli!“16

6.

1

Do gitet du guti Judith, du zi góti wól dígiti.

a [sw hìzzir máchìn ein bát:

B

b ziwári sàg ìch u dáz.]

su was diz allir schonis wib:

<[su zírti wóli> den ír<[i> líb.

E

c [su ùnd

C

d di gíngin wòl> zi wári]

A

5

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

úzzir der búrgi

úndir di héidinischi ménigi.17

7.

1

Do sprach Oloferni

(di burc habit er gerni):

„ich gisihi ein wib lussam

dort ingegin mir gan:

a [mìr ni wérdi daz schòni wíb,

B

b ìch virlúsì den líb.]

B

5

, kamirari:

ir machit mirz bi,

daz ich giniti minis libis

insamint demo sconin wibi!“18

8.

1

di kámirari dáz gihórtin,

wi schíri si dár kértin!

di vróuwin si úf húbin,

ín daz gezélt si si trúgin.

5

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

9.

1

Do sprach du guti Judith,

du zi góti wóli dígiti:

“nu daz also wesin sol

daz du, kúninc, mich zi wíbi némin sólt,

a [wìrt du brútlòuft gitán,

B

b iz vrèiskint wíb ùndi mán.]

B

5

nú heiz trágin zisámini

di spisi also manigi.”

dó sprach Óloférni:

“vrouwi, daz tun ich gerni.“20

10.

1

Do hiz min tragin zisamini

di spisi also manigi.

a [† mit alli di spisi || dú in dèmo héro wàs:

b zi wári sàgin ìch u dáz.]

E

do schancti du gůti Judith,

du zi góti wóli dígiti,

c [su úndi iri wíb Ávi,

C

d di schánctin wòl zi wári:

A

e der zénti sàz ùffin der bánc,

(E)

f der hètti den wín àn dir hánt.]

B [195]

5

do tranc Holoferni

(di burc [di] habit er gerni):

durch des wibis ´ x

er wart des winis mudi.21

11.

1

Den kunic truc min slaffin.

Judith du stalim daz waffin.

do gi su vallin an diz graz,

su bétti áls ír<[i]> wás:

5

„nu hílf mir, álwàltíntir gót,

der mir zi lebini gebot,

dáz ich dis ármin gilóubigin

irlosi von den heidinin!“22

12.

a [Dò irbármòtiz dóch

B

b den alwáltìntin gót.]

B

1

Do santer ein engil voni himili,

† der kuntiz deri vrouwin hi nidini:

“nu stant uf, du gůti Judith,

du zi góti wóli digiti,

5

unde géinc dir zi démo gizélti,

c [da daz swért s~i gibórgin.

A

d du hèiz din wíb Ávin

C

e vùr daz bétti gáhin,

f òb er úf wélli,

C

g daz su in éltewàz † avélli.

C

h du zúhiz wiglìchi

D

i und slá vrábillìchi]

undi sla Holoferni

daz houbit von dem buchi

D

k [dù la lígin den sàtin búch:

B

1 daz hóubit stòz in dìnin slúch]

E

undi génc wídir zi der búrgi!“

m [dir gibútit gõt von hímili

A

n daz du irlosis di israhelischin menigi.“]

— [196]23

15. Zur Fassung dieses Textes zunächst noch einige Zwischen­bemerkungen.

a) Da ich die Heimat des Gedichtes nicht näher zu bestimmen vermag, habe ich dem Text im Ganzen das überlieferte ortho­graphische Gewand belassen, insonderheit auch die i für ge­schwächtes e beibehalten. Diese i mögen ja im allgemeinen bei den Texten unserer Zeit auch nur orthographische Bedeutung haben: hier bei der Judith können sie aber dem Leser doch auch einen orthoepischen Wink geben. Wollte man nämlich die geschwächten Vokale mit dem dumpfen (stark gemurmelten) Klang unserer nhd. unbetonten e sprechen, wie er in Mittel- und Norddeutschland üblich ist, so würden die Melodiekurven viel­fach in ihrer Reinheit gestört. Man muß viel­mehr einen helleren (ungemurmelten) Vokal sprechen, etwa gleich dem ober­deutschen geschlossenen e gewisser Endsilben, wenn man nicht geradezu bei dem i bleiben will.

b) In einem Punkte aber war sicherlich zu korrigieren. Die Hs. setzt bekanntlich für germ. d ziemlich regellos d und t durch­einander, und es fragt sich, welche Form dem Dichter zu­kommt. Diese Frage kann mit Hilfe einer Beobachtung be­antwortet werden, die mir F. Saran gelegentlich einer Be­sprechung über Metrik und Mundart des Annoliedes mitgeteilt hat und auf die ich mit seiner Erlaubnis hier Bezug nehmen darf: der Beobachtung nämlich, daß nachfolgende stimmhafte Media die Tonhöhe des vorhergehenden Vokals drückt, während nachfolgende Tenuis sie hebt. Das Gleiche gilt aber, wie ich ergänzend hinzufügen kann, auch von der Einwirkung voraus­gehender Laute, und ebenso für beide Stellungen von der Einwirkung aller stimmhaften Laute im Gegensatz zu der der stimmlosen.24 Dieser Einfluß ist so stark, daß die Glätte der Versmelodien überall empfindlich gestört wird, wenn man statt der von einem Dichter gewollten Media eine Tenuis spricht, und um­gekehrt (bzw. ähnlich in den übrigen Fällen). Für deutsche Texte des Mittelalters kommt dabei aus naheliegenden Gründen fast nur die Frage nach ihrer Stellung [197] zur Verschiebung des germ. d in Betracht:25 aber gerade diese ist ja für Lokalisierungsfragen auch von besonderer Wichtigkeit.26 Speziell in unserem Falle kann es nun keinem Zweifel unter­liegen, daß der Dichter der Judith im An­laut sowie nach Vokalen und r überall t gesprochen hat. Darum habe ich 1, 8. 3, 3 mit, 3, 4 tagi, 6, 1 gitet, 8, 4 trugin, 9, 5. 10, 1 tragin, 9, 8 tun, 10, 5 tranc, 11, 1 truc geschrieben (desgl. in interpolierten Stellen 1, d tiuri, 4a, h trugidinc, 12, g ettewaz) ent­sprechend dem hsl. überlieferten 1, 2 streit, 1, 2. 6, 1. 9, 2. 12, 4 goti, 1, 4 siti, 1, 6. 7. 9, 1. 10, 3. 12, 3 gůti, 1, 7 antwrti, 1, 8 suerti usw. Denn unzweifelhaft wird die Tonhöhe der betreffenden Wörter oder Silben bei einer Aussprache mit stimmhafter Media viel zu sehr nach unten gedrückt.27 — Rheinfränkische Herkunft ist damit für die Judith wohl ausgeschlossen.

c) In anderer Beziehung habe ich mich viel enger an die Hs. anschließen müssen, als das z. B. in Müllenhoff und Scherers Denk­mälern geschehen ist. Dort ist der Text durch Scherer ziemlich stark zusammengeschnitten, um ihn einigermaßen unter die Regeln der mhd. Metrik klassischer Zeit bringen zu können. Ich muß dem­gegenüber ausdrücklich betonen, daß die Rücksicht auf die Melodie und die übrigen oben behandelten Charakteristika des Verses alle diese Änderungen Scherers bis auf verschwindende kleine Ausnahmen direkt verbietet. — Auch bezüglich der Betonung muß ich öfter von den Denkmälern abweichen: Ansätze wie dèr streit || wídir góti gérni 1, 2, èr reit || vérri híni wéstir 2, 5, (mìr ni || wérdì daz schóni wíb 7, a), dò sant || ér ein éingil voni hímili 12, 1 (dèr kunt || íz der vrówin hi nídini 12, 2) mit zweisilbigem Auftakt (und z. T. schwebender Betonung) sind z. B. aus den angeführten Grün­den ganz unmöglich. Um keinen Zweifel zu lassen, habe ich daher an Stellen, die an sich vielleicht eine verschiedene Auf­fassung gestatten, durch Akzente angedeutet, wie meiner Ansicht nach zu betonen ist.

Über den Wortlaut einzelner Stellen s. unten Nr. 26 und 28.

16. Vergleicht man nun die oben im Text ein­gerückten und mit Buchstaben statt mit Zahlen be­zeichneten Versgruppen (ich fasse sie im Folgenden unter der Sigle B zusammen) mit denen, die das Material zu der Nr. 1 ff. gegebenen Schilderung geliefert haben (Sigle A), so ergibt sich, wie schon Nr. 13 angedeutet wurde, ein in einer ganzen Reihe von Punkten ab­weichendes Bild.

17. Schon die Tonlage (vgl. Nr. 1) ist ein wenig verschieden, d. h. B liegt für den niederdeutschen Leser etwas höher, für den hochdeutschen etwas tiefer als A. Zur Kontrolle für die Ton­sprünge von A zu B und umgekehrt empfiehlt es sich beson­ders, die Strophen 4, 4a und 5 nacheinander zu lesen, da es sich dort auf beiden Seiten um größere und geschlossenere Text­massen handelt.

18. Vielleicht noch deutlicher ist der Gegensatz bezüglich der Schlußkadenzen (Nr. 2). Sie sind in B für den Niederdeutschen steigend, für den Hoch­deutschen fallend. Vgl. z. B. für stumpfen Ausgang (nach niederdeutscher Intonation) wi.rt du bru·tlou.ft gita·n, || iz vrei.skint wi·b u.ndi ma·n 8, ab, oder si·n ist a.l der e.rtri·nc, || dinu a·bgot si.nt ein tru.gidi·nc 4a, gh, oder für klingenden da.z si wa·rin ni.di·c || undi ni.mi·nne gna.di·ch 1, ab. Ohne Rücksicht auf die Kadenz kann man auch sagen: bei A liegen (immer nach dem nieder­deutschen System gerechnet) die Schlußsilben der Verse regelmäßig unter, bei B regelmäßig über dem [199] allgemeinen Niveau ihrer Zeilen. — Über die Tonver­hältnisse des Verseingangs s. nachher Nr. 22. — Die Tonschritte sind im allgemeinen bei B größer als bei A (Nr. 5).

19. Was das Dynamische anlangt (vgl. Nr. 6), so liegt der Schwerpunkt des Verses nicht mehr wie bei A ausschließlich im letzten Fuß, sondern sehr oft auch an einer andern Stelle; vgl. beispielsweise daz was dir árgisti lib 1, e, swígint, Oloferni 4a, b, sín ist al der ertrinc 4a, g, do irbármotiz doch 12, a, ob er úf welli 12, f usw.

Im einzelnen hängt diese Verschiedenheit in der Lagerung des Schwerpunktes mit der psychischen und rhythmischen Glieder­ung der Verse zusammen, und diese steht wieder in dia­metralem Gegensatz zu der in A eingehaltenen.

20. An Stelle der für A so charakteristischen Drei­teilung des Verses (Nr. 7) herrscht in B ebenso aus­ gesprochene Zwei­teilung, vgl. etwa daz si warin | nidic || undi niminni | gnadich 1, ab, wazzir | undi vuri || machin | vili tiuri 1,cd, der dir hiz | werdin || den himil | joch di erdin 4a, ef, usw. Selbst bei den stärker gefüllten Versen sit slug in Judith | ein wib 1, f, der gischuf | alliz daz dir ist 4a, d, nu giwin uns eini vrist, | biscof Bebilin, || ob iz uwiri gnadi | megin sin 5, cd, du la ligin | den satin buch, || daz houbit stoz | in dinin sluch 12, kl kann man ohne Sinnesstörung nicht zweimal brechen. Nur éine Ausnahme scheint im eigentlichen Text B vorzukommen, nämlich die Schlußzeile daz du irlosis | di israhelischen | menigi 12, n, und da wird man (falls die Überlieferung korrekt ist) eben deren Eigenschaft als "erweiterte" Schluß­zeile in Anschlag bringen dürfen (ähnlich z. B. auch am Schluß der Drei Jünglinge im Feuerofen: dort geht eben­falls eine dipodisch abgestufte Versreihe mit dem adipo- dischen dreiteiligen Vers du dru kint | also sampfti | irlosti 8, 10 aus; s. dazu [200] noch unten Nr. 27); wegen ganz anomaler Füllung sind sodann zwei weitere Ausnahmsverse, nämlich 1, αβ, einer dritten Hand zuzu­weisen: sie sind formell ganz stümperhaft gebildet, inhalt­lich sonderbar, und stören an ihrer Stelle den Zusammen­hang. — V. 10, a ist augenscheinlich verderbt.

21. Die Schärfe, mit der diese Zweiteilung durch­geführt ist, läßt auf Zusammenhang mit der alther­gebrachten dipodischen Dichtungsform schließen (während A monopodisch war, s. Nr. 5). Tatsächlich zeigen denn auch die Verse von B (abzüglich der paar eben erwähnten Ausnahmen) regelmäßige rhythmisch­melodische Abstufung nach dem Fünftypenschema; das habe ich gleich im Text durch die übergesetzten Akzente und durch die Typenzeichen A, B, C, D, E am Rande zum Ausdruck gebracht. Allerdings sind die alten Typenformen nicht mehr überall ganz rein erhalten (ich habe in diesem Falle das Typenzeichen einge­klammert). Aber das kann nicht befremden, denn es handelt sich dabei nur um gewisse Umbildungen der ältesten Grundformen, die auch sonst in der jüngeren Literatur begegnen. Das näher auszuführen, ist freilich hier nicht der Ort.

22. Mit den dynamischen Typenformen hängen aber weiterhin wieder die Melodieformen im ein­zelnen zusammen, namentlich was den Verseingang betrifft. Hier beginnen B (Grundform x x ´ | x ` x ´ ) und C (Grundform x x ´ | ´ x`) mit einem dynamisch ansteigenden Ast, und dem geht (nach der nieder­deutschen Intonation) ein Aufsteigen der Tonhöhe von erster zu zweiter Hebung parallel; vgl. etwa für B . irbá·r- | mòtiz dóch || dè.n alwá·l- | tintin got 12, ab, für C .r dir hí·z | werdin 4a, e. Hier liegt also, wie in A (oben Nr. 3) die erste Hebung relativ tief (doch bleibt auch hier der Unterschied des allgemeinen Tonniveaus, oben Nr. 17, bestehen), und das drückt durch den Kontrast (oben Nr. 4) den etwaigen Auftakt in die Höhe (vgl. etwa für B da·z || wà.s der a·r- | gisti lib 1, e, für C do· || sprà.ch der bú·rc- | gravi 4a, a). Aber bei A (Grundform ´ x ` x | ´ x`) und E (Grundform ´ x `` x ` x | ´ ) kehrt sich, wie die Dynamik, so auch die Tonführung völlig um, d.h. hier liegt die erste Hebung hoch, die zweite tiefer, und der Auftakt tiefer als die erste He­bung, Vgl. z. B. für A ·zzir ù.ndi | vuri || má·chin vì.li | tiuri 1, cd, swí·gint, Ò.lo- | ferni 4a, b, mit Auftakt de.n || hí·mil jò.ch·di | érdin 4a, f; für E ·r gi'lòu.bin a.n den | Cri·st 4a, c, mit Auftakt zi.- || wá·ri sà.gin ì.ch·u | da·z 6, b. 10, b. Diesem letzteren Typus schließt sich dann auch D ´ x | ´ x `` x ` an, vgl. du. || zú·hiz | wí·glìchi || u.nd || slá· | vrá·billìchi 12, hi.

23. In meinen Metr. Studien 1, 58 f. (§ 40, 3) habe ich ferner gezeigt, daß und warum dipodisch ge­gliederte Verse ceteris paribus ein schnelleres Tempo verlangen als monopodische, und daß sie des­halb bei künstlicher Verlangsamung des Tempos leicht ganz auseinander fallen. Das bestätigt sich auch hier. Man kann sich leicht davon überzeugen, wenn man eine beliebige längere Mischstelle durchskandiert und dabei Takt schlägt. Behält man dabei das für A natürliche (langsame, vgl. Nr. 10) Tempo auch für B, so zerfallen dessen Verse; führt man das schnellere Tempo der B-Verse durch, so kommt man bei A auf Schritt und Tritt ins Stolpern. Man kann daher auch die für A so charakteristischen rhythmischen Pausen (s. Nr. 10) bei B durchaus nicht anbringen: dessen Verse müssen vielmehr in glattem Zusammenhang (also legato) ge­sprochen, oder laut­end ausgefüllt werden.

24. Man kann dies Verhältnis auch noch auf eine andere Weise illustrieren. Dipodische Verse, die noch im Takt gehen (ich schließe also die Alliterationsverse aus) sind, eben wegen ihres schnelleren Tempos, empfindlicher gegen starke Fußfüllung als monopodische Verse. Man darf also erwarten, daß drei- und vier­silbige Füße bei B relativ seltener sein werden als bei A, und das trifft wiederum zu.

In A zähle ich auf 88 Verszeilen 26mal die Fußform ´ xx (1, 1 [2], 2. 3 [2]. 2, 8. 3, 6. 4, 1. 5. 5, 3. 4. 5. 8. 6, 3 [2]. 8. 8, 2. 4 [2]. 9, 8. 10, 3. 11, 7. 12, 1. 2. 5), 12mal die Fußform ͜ ´ xx (2, 7. 4, 2. 4. 6, 4. 7, 2. 3. 9, 5. 10, 1. 6. 11, 2 [2], 12, 5), ferner (ohne 12,2) 11mal ´ xxx (1, 5. 6. 8. 2, 2. 5. 7 [2]. 5, 6. 6, 8. 11, 12, 1) und 5mal ͜´ xxx (3, 4. 7, 8. 8, 1. 9, 4. 12,8), zusammen also 38 dreisilbige und 16 viersilbige (im ganzen 54 mehr als zwei­silbige) Füße, und die Belege ziehen sich gleichmäßig durch den ganzen Text hindurch. In B sind dagegen auch längere Strecken ganz frei davon, und anderes ist mindestens zweifelhaft. In 10, c verlangt die Melodie die Kürzung su und[i] ir[i] wib Avi, und auch der zenti saz uffin der banc 10, e entspricht nicht der sonstigen Glätte des Rhythmus von B (lies uf?). Dann bleiben: a) aus dem Bereich der sonst normal (d. h. hier nach dem Typenschema) gebildeten Verse drei ganz leichte Fälle zweisilbiger Senkung: mir ni wérdi daz schoni wib 7, a, der hetti den win an dir hant 10, f und du la ligin den satin buch 12, k; — b) drei überhaupt stark abweichend gebaute Verse: nu giwìn uns eini vríst, biscof ͡ Bébilín, || ob iz ùwiri gnádi mègin sín 5, cd (die Typenform ist undeutlich) und der schon oben Nr.20 besprochene Schlußvers daz du irlosis | di israhelischen | menigi 12, n, der uns sogar einen fünfsilbigen Fuß beschert (dazu vgl. Nr. 11, Fußnote), aber eben als Schlußvers viel­leicht einer besonderen Beurteilung unterliegt (Nr. 20). Das legt dann wieder die Vermutung nahe, daß wenigstens die Verse 5, cd nicht von zweiter, sondern (wie 1, aß, s. oben Nr. 20) erst von dritter Hand stammen oder doch überarbeitet sind. Rechnet man aber selbst alles zusammen (doch ohne 10, c [s. unten Nr. 28 zur Stelle] und 1, aß, die man sicher nicht einbeziehen darf), so kommen für B auf 45 Verszeilen doch nur 8 Belege für mehr als einsilbige Senkung heraus. Auf je 100 Verszeilen würden also bei A ca. 65 bis 66 solcher Senkungen zu erwarten sein, für B höchstens ca. 18, für die sonst glatten Typenverse von B aber, die man allein mit Sicherheit der zweiten Hand zuschreiben kann, gar nur ca. 7. Hier tritt also ein Häufigkeitsverhältnis von annähernd 9:1 zutage.

25. Mir scheint nach allem dem der Gegensatz zwischen der Versbildung der Gruppen A und B so stark ausgeprägt zu sein, wie man es nach den Um­ständen nur erwarten kann, und damit entfällt meines Bedünkens auch die Möglichkeit, die beiden Gruppen auf ein und denselben Dichter zurückzuführen. B ist vielmehr erst sekundär in A eingetragen, und das Ganze hat dann noch von dritter Hand wenigstens éinen sicheren Nachtrag erhalten (1, α β), möglicherweise aber noch mehr (vgl. oben Nr. 24 über 5, cd). Es dürfte sich also jetzt nur noch um die Frage handeln, welchen weiteren Einfluß die Einarbeitung der jüngeren Partien etwa auf den ursprünglichen Text ausgeübt hat.

26. Ganz glatt vollzieht sich die Ausscheidung der B-Zeilen bei Strophe 7, 9 und 10 (hier hat also der Bearbeiter nur ein­geschoben, nicht getilgt oder geändert). Die Zahl der voll­ständigen achtzeiligen Strophen wächst danach auf 7 an (vgl. Nr. 13). In zwei weiteren Fällen Str. 1 und 12, ist die Achtzahl der Zeilen des alten Textes auch gewahrt, aber der Bearbeiter hat zugleich, um seine Einschübe besser anzu­schließen, sichtlich auch den Wortlaut der (folgenden) Nach­barzeilen etwas um­gestaltet. Zweimal endlich, bei Str. 5 und 6, sind ihm auch je 2 Zeilen des alten Textes zum Opfer gefallen. Der Verlust der zweiten Hälfte von Str. 8 wird da­gegen bloß mangelhafter Überlieferung zur Last zu legen sein.

a) Bei Str. 12 kann sich ja das kuntiz von Z. 2 nur auf den Inhalt der beiden vorgeschobenen Zeilen zurückbeziehen, also ist mindestens das Pronomen zu tilgen. Aber auch das Verbum kunden ist an dieser Stelle verdächtig: dem Sinne nach, und weil es melodisch falsch liegt. Möglicherweise verrät sich der Interpolator noch durch 12, m, insofern ihm das gibutit durch ein ursprünglich in Z. 2 stehendes gibot suggeriert worden sein könnte. Rhythmisch-melodisch kämen mit einem solchen gibot die beiden Zeilen 1 und 2 in Ord­nung. Daß damit aber zugleich schon die Intaktheit ihres ganzen Textes gewährleistet würde, kann man natürlich nicht behaupten. Das einfache er statt got in 12, 1 bleibt immer auffallend. Ich halte [204] es also für wahrscheinlich, daß der Überarbeiter noch mehr geändert hat.

b) Ganz übel ist der Text von 1, 5—7 verderbt: wie weit durch die Schuld des Bearbeiters, kann man nicht wissen, und was ich in den Text gesetzt habe, will auch nur ein Notbehelf sein. Sicher scheint mir, daß das noch von Z. 5 dem Bearbeiter angehört, der es für ursprüngliches daz einsetzte, um seine Zeilen 1, ab mit 3 zu verbinden. Des weiteren halte ich die in den Denkmälern gegebene Fassung des Textes für unrichtig, denn „daß aus ihrem Munde keine Rede eine gute Antwort bekäme, außer mit ihrem scharfen Schwerte“ ist ein ganz schiefer Gedanke: eine „Schwert­antwort“ auf eine Anrede ist weder eine „gute“ Antwort, noch geht sie aus dem "Munde" hervor. Man wird also doch das gestrichene niman als Subjekt beizubehalten, aber nach Z. 1 hinaufzuschieben haben. Der Sinn wäre dann, „daß niemand aus ihrem Munde ein gutes Wort zu hören bekäme“.28 Dabei wären die Leute vermutlich als selbstredend gedacht, und die Fortsetzung könnte dann ge­wesen sein "und daß niemand (sc. wenn er sie anredete) eine andere Antwort erhielte als mit dem Schwerte". Dann wäre wenigstens der Zusammenhang von Z. 8 mit den Worten uzzir iri mundi 5 etwas gelockert. Aber gůti antwurti 7 bliebe auch dann wohl unmöglich. Ich habe daher daran gedacht, gůti könnte aus Z. 6 irrig wiederholt, und das voranstehende niheini aus noch einic verderbt sein.

c) Bei Str. 4a. 5 gehe ich insofern noch weiter als Scherer, als ich auch 4a, a (= Denkm. 6, 1) und 5, a—d schon aus me­trischen Gründen zu B rechnen muß. Die Dublette 5, c: 5, 3 wird man nach wie vor gern entbehren. Sie scheint übrigens direkt auf die Interpolation hinzudeuten, und deshalb schon empfiehlt es sich nicht, die Schwierigkeit der Stelle mit Scherer durch Streichung der Worte nu giwin uns eini vrist zu umgehen. Daß von Burggraf und Bischof schon im alten Text die Rede gewesen sein könne, leugne ich nicht: aber der Wortlaut der beiden ersten Zeilen von Str. 1 ist nicht mehr herzustellen.

d) Bei Str. 6 hat den Bearbeiter sichtlich das Bestreben geleitet, das wib Avi (stets so, 6, c. 10, c. 12, d) anzubringen, das ihm wohl besonders am Herzen lag. Auch in Str. 10, cd muß sie ihm wieder den Wein schenken helfen, und in Str. 12, dff. die Judith bei dem Mordakt unterstützen. A weiß oder sagt dagegen von ihr nichts. — Man beachte übrigens die wörtliche Überein­stimmung von 6, b mit 10, b und von 6, c mit 10, c, und daß die beiden Zeilen innerhalb B jedesmal zusammen­stehen.

27. Stofflich hat B außer dem beregten wib Avi nichts Wesentliches zu A hinzugebracht. Auf Kenntnis der biblischen Erzählung weist außerdem auch noch 6, ab hin (et lavit corpus suum Jud. 10, 3), desgleichen cd. (vgl. Jud. 7, 9 ff.), und vielleicht 1, b (vgl. Jud. 6: Steinmeyer, Denkm. 23, 237). Daß auch die Ein­fügung von Str. 4a etwa durch die Erinnerung an unum deum coeli coluerunt Jud. 5, 9 bzw. deus coeli defensor eorum est 6, 13 (vgl. auch 6, 2) veranlaßt sei, wird sich dagegen nicht so bestimmt sagen lassen. Möglich ist es immerhin, ja vielleicht nicht einmal unwahrscheinlich. Der Entscheid wird wesentlich davon abhängen, wie man das Verhältnis der Str. 4a zu den entsprechenden Versen der Drei Jünglinge im Feuerofen (Denkm. 6, 3—8) beurteilt. Denn diese Verse gehören meines Erachtens auch nicht zum ursprünglichen Bestand des letzteren Gedichtes. Auch dieses ist nämlich, gleich der Judith, stark überarbeitet, und unter den Zusätzen, die ich aus- scheide, begegnet genau derselbe dipodisch abstufende Typus wie in der Judith (vgl. dazu außerdem noch, was Nr. 20 über den Schlußvers bemerkt ist). Ich halte es also für möglich, daß sich ein und derselbe Interpolator an beiden Gedichten versucht hat (wie z. B. das auch bei Recht und Hochzeit meiner Meinung nach der Fall ist), ich bin aber noch nicht zum Abschluß der Unter­suchung gekommen. Die Ausscheidung des Unechten ist bei den Drei Jünglingen viel schwieriger. Nur das scheint mir auch aus den melodischen Verhältnissen her­vorzugehen, daß der Grundstock des Textes der Drei Jünglinge nicht vom Dichter der Judith herrührt. Das Rhythmische ist zwar ähnlich (wie denn dieser rhythmi­sche Typus überhaupt ziemlich verbreitet ist), aber die [206] Versmelodie ist eine ganz andere. Während in der Judith die Melodiekurve (nach niederdeutscher Into­nation) in der zweiten Hebung ihren Höhepunkt erreicht, und von da nach dem Ende zu stetig absinkt, fällt die Melodie in den Drei Jünglingen von der ersten zur zweiten Hebung und steigt dann wieder in die Höhe.

28. Zum Schlusse füge ich noch einige Bemerkungen über die Textkonstitution einzelner Stellen an.

1, 1. Nur herzogi, nicht das dafür vorgeschlagene kuninc, paßt in die Melodie (kuninc liegt für den Niederdeutschen zu hoch).

In 3 darf weder wirsistin mit Scherer zu wirstin gekürzt, noch man mit Kraus, Zs. f. d. öst Gymn. 1894, 139 gestrichen werden.

Über 5ff. s. oben Nr. 26, c. — Der Vers 6 ni-| cheini gůti | redi | vundi ist wohl etwas hart, sieht aber auf dem Papier schlimmer aus als er beim Vortrag ist. Das Adjektivum steht proklitisch zu seinem Substantiv, mit dem es gewissermaßen einen Begriff bildet (auch wir betonen ja noch einem kein gutes ͡ Wórt gönnen. Dadurch wird der Tonwert des Adjektivs so herab­gedrückt, daß es ganz gut in die zweite Hälfte eines viersilbigen Fußes treten kann (vgl. Nr. 11, Fußnote).— In 8 ist mit Waag gegen Kraus, Anz. f. d. Alt. 17, 32 doch zu wari zu ergänzen, denn einfaches wari würde die Melodie stören; in noch höherem Maße gilt das von Hofmanns wan. — Ebenda ver­langen Metrum und Melodie die Kurz­form (mit) ir, während sonst iri beizubehalten oder herzustellen ist: úzzir iri múndi 1, 5, den ír líb 6, 4, áls ír wás 11, 4. Es scheint nach diesen Beispielen, als habe der Dichter die Form ir nach einsilbiger Präposition gebraucht, sonst aber iri, und ähnlich liegt es hei der — deri u. ä. Es heißt 12, 2 der kúntiz deri vróuwin, unc 6, 7 ist der Melodie wegen úzzir der burgi herzustellen; dagegen vgl. án der sélbin stúnt 2, 3, wídir zi der búrgi 12, 8, und (gegen die Hs.) alli tági zi der búrc 3, 4, desgl. si sínt nách an dem éndi 4, 8, daz hóubit vón dem búchi 12, 7 (vgl. auch stálim daz wáffin 11, 2) gegen insámint demo scónin wíbe 7, 8 und, mit betontem Pronomen, géinc dir zi démo gizélti 12, 5. Ebenso verlangt die Melodie darvori 3, 7, gari 3, 8, dar 8, 2 und 6, 2 (desgl. 6,4), wie denn woli 9, 2. 4. 12, 4 überliefert ist, und 6, 3 (vgl. alliri 1, 3, hungiris 3, 6). Analoge Schwankungen nach n finden sich bei vérri hini wéstir 2, 5, éngil voni hímili 12, 1 gegen vón den heidinin 8, vón dem buchi 12, 7, án der [207] 2, 3, an dem 4, 8, an wén 4, 5 (das folgende ani ist mit dem Übrigen zu tilgen, s. unten zur Stelle) und bei der heidin 2, 4 gegen heidinin 11, 8 (beides ist in der handschriftlichen Form beizubehalten).

2, 3. Die Ergänzung eines Verbums verlangen Sinn, Stil, Metrum und Melodie. Ob gerade die Wiederholung des giwan das Richtige trifft, lasse ich dahingestellt sein: bei dem formelhaften Charakter des Gedichtes liegt sie jedenfalls nahe. — V. 1.2 beziehen sich übrigens auf Jud. 2, 7, V. 3. 4 auf Jud. 3, 8. — In 7 ist nur bisazzit mit Hofmann in bisazzir zu verbessern, aber nichts zu streichen. Scherers bisázzit èiní búrch dà: || du hézzìt Bathánià ergibt einen dipodischen Rhythmus, der dem Text A, und eine Melodieform, die dem Überarbeiter B fremd ist (fallende statt steigender Kadenz am Schlusse nach nieder­deutschem System). — Die Form Băthania wird übrigens durch die Melodie für den Dichter gewährleistet; sowohl ein Béthanià wie ein Bétulià (mit ě oder ē) würden durch ihr e den Ton zu sehr in die Höhe treiben. — Man beachte, daß der Dichter von A stets Jŭditha, -i (und 11,2 Jŭdith) spricht (Scherer, Denkm. 23, 235, bestätigt durch die Melodie), dagegen der von B 1, f Jŭdith (hier wäre ein Jŭditha, -i rhythmisch-melodisch unzulässig).

3, 1 ist die Kurzform drumbi beizubehalten [s. S. 124], dagegen ist in 5 drinni zu ergänzen und in 6 darvori dir | vori zu schreiben, weil sonst der erste Fuß zu dünn und dadurch melodisch verschoben wird. — 4. Ohne die im Text vorge­schlagene Umstellung fällt die Zeile völlig aus dem Typus von A heraus.

4, 5. 6. Der überlieferte Text an wen disi burgeri jehin || odir an[i] wen si sich helphi virsehin paßt rhythmisch und melodisch weder zu A noch zu B. Außerdem kommt mir der Gedanke, Holo­fernes habe sich gewundert, wer der Gott der Belagerten sei (denn das müßte V. 5 doch besagen), etwas befremdlich vor, zumal nach 2, 6, wo er ausdrücklich durch du gotis lastir ausgezogen ist. Da nun auf unsere Strophe im Text sofort das interpolierte Glaubens­bekenntnis 4a folgt, so liegt es, meine ich, sehr nahe, anzunehmen, daß der Interpolator sich dafür den Weg durch einen Zusatz in 4, 5 f. gebahnt habe. Danach habe ich an letzterer Stelle geändert. An dem Tempuswechsel virsahin: dinge wird man keinen Anstoß zu nehmen brauchen.

5, 5. 7. Das unsich der Hs. geht auch nach meiner Auffassung der Rhythmik des Gedichtes nicht in den Vers. — In 5 wird die Betonung gót | dúrch sini | gúti durch Rhythmus und Melodie erfordert: ob uns gót durch síni gúti gäbe eine glatt aufstei- [208] gende Tonreihe, und der Vers verlöre seine Dreiteiligkeit. — Zweisilbiger Auftakt ist in A 11 mal überliefert (2, 7. 3, 4. 4, 7. 5, 5 [s. oben]. 6, 1. 2. 7, 3. 9, 2. 4. 10, 4. 12, 3), dreisilbiger nur hier und (viel leichter) in daz ich giniti 7, 7 (s. unten zur Stelle). Überdies ergibt in dirri || búrc | díngi swer so dir | wélli eine falsche Tonkurve, und eine für A ausge­schlossene viersilbige Senkung (vgl. Nr. 11 Fußnote). Darum habe ich einfaches hi für in dirri burc gesetzt.

6, 2. Über wol hier und ähnliches im folgenden s. oben zu 1, 8. — b. sag nach 10, b. — d. Einfaches zi wári fälscht die Melodiekurve (fallende Schlußkadenz); darum habe ich noch wòl hinzugesetzt, nach dem Muster von 10, d, wo ebenfalls wol zi wari zusammenzunehmen, nicht wol mit schanctin zu verbinden ist.

7, 7. Auf keinen Fall ist mit Scherer daz ich gniti minis libis zu lesen, denn dadurch geht die Melodie und die Dreiteiligkeit der Zeile in die Brüche. Etwas besser wäre deich giniti: das würde ja den dreiteiligen Auftakt (s. oben zu 5, 8) ebenso gut beseitigen. Der zu erwartende Bruch hinter giniti (und dann ebenso hinter minis) wird aber nur deutlich, wenn man bei der Lesart der Hs. bleibt.

8, 1. Di kamirari daz gihortin hat falsche Melodie und ist inhaltlich kaum bedeutsam genug, um hier gut als selbständiger Satz fungieren zu können. Die Ergänzung von <Do> beseitigt, beide Übelstände. — 2. Über dar s. oben zu 1, 8.

10, 1 ff. Die Wiederholung der beiden ersten Zeilen der Strophe aus Str. 9 ist gewiß nicht gerade kunstvoll, mag aber be­absichtigt sein. Zu 6 gehört auf alle Fälle das Folgende von du an. Aber mit alli di spisi paßt melodisch auch nicht ganz zu B (zu A gar nicht, auch nicht rhythmisch und der Gliederung nach). Die Worte mögen also tertiär sein. Jedenfalls ist aber Scherers Vorschlag Do hiz min tragin zi musi abzulehnen, sofern es sich dabei um Restitution eines Verses aus A handeln soll, denn auch diese Worte fügen sich dem Typus von A nicht ein. — 7. Hofmanns Ergänzung vrudi paßt nicht in die Melodie, auch wenn man dafür mit Steinmeyer die korrektere (Nr. 15, b) Form vruti setzt. Das r drückt nämlich die Tonhöhe des Wortes zu sehr herunter (vgl. Phonetik6 § 478. 665). Ich bin also geneigt zu glauben, daß Stein­meyer mit guti das Richtige getroffen hat.

11, 1. kuninc statt kunic verlangen Rhythmus und Melodie; desgl. ist aus denselben Gründen in 4 als ir (vgl. [209] zu 1, 8) und in 7 dáz ich dis | armin usw. zu lesen. Über den Hiatus in letzterer Zeile und in 4 s. Nr. 8 Fußnote 1.

12, 1. Vgl. Nr. 26, a. — i. Scherers vrabillichi entspricht meines Bedünkens allen zu stellenden Anforderungen. Der Vorschlag von Wallner (Zs. f. d. Alt. 41, 76) du zuhiz, wi blicki || undi slabraui nicki ist, wie bereits E. Schröder a. a. 0. in einer Fußnote angemerkt hat, schon wegen des wi unmöglich. Ich glaube auch nicht einmal mit Schröder, daß wir damit überhaupt auf dem rechten Wege sind: es kommt zu vieles zusammen, was gegen ihn spricht. Anstößig sind an sich schon die angenommenen Plurale blicki und nicki. Sodann ist mir nicht bekannt, daß das Wort blic in der älteren mhd. Literatur je zu anderen als Helligkeitsvergleichen gebraucht würde: blitzschnell u. ä. dürften erst nhd. sein. Weiterhin ist mir die Form slabra bedenklich. Zu dem i-Stamm slag bildet das Ahd. nach bekannter Regel nur Komposita mit slegi-, z. B. slegi- brawa, -rind, -federa Graff 6, 773 (Graffs Belege für slegi-brawa und ähnliche Formen dieses Wortes stehen bei Notker Ps. 10, 5 und Ahd. 611. 2, 225, 23. 233, 31. 393, 24. 498, 2. 3, 18, 33. 438, 12; dazu noch slegibraua 2, 241, 16). Der einzige Beleg, den Lexer für slagebra beibringt (aus Dief. 407), steht Ahd. Gll. 3, 661, 9 und entstammt der Innsbrucker Hs. 711 aus dem 14. Jahrhundert. Bei den übrigen Kompositis von slac ziehen sich die Formen mit slege- als solche (wenn sie auch natürlich nicht bei jedem Worte zu belegen sind, namentlich nicht bei den vielen späten Bildungen) auch noch durch die ganze mhd. Zeit hindurch. Wenn aber daneben in buntem Wechsel auch solche mit slage-, slac-, slah- auftreten, so liegen da klärlich erst sekundäre Anlehnungen an das isolierte Subst. slac bzw. an das Verbum slahen vor. Aus der klassischen Zeit ver­zeichnet Lexer nur slegerint Helmbr. und slegetor Iw. usw. neben slagebrücke Parz. 247, 22. Diese letztere Form ist aber in keiner der beiden alten Hss. überliefert, sondern G liest slege bruke, D aber slagbruken, und diese (von dem fertigen slac gebildete) Form ist nach Ausweis der Melodie in den Text mit aufzunehmen. Die für die Judith angesetzte Form *sla-bra aus *slage-bra müßte nun aber schon in die Zeit vor dem etwaigen Ausfall des g gehören: das ist aber nach dem Gesagten ganz unwahr­scheinlich. Die slegi-brawa hat überdies ihren Namen vom Schlagen, es ist also nicht glaublich, man habe statt dessen schon altmhd. auch sagen können, sie nicke: ich finde wenigstens kein Anzeichen dafür, daß das allein hier in betracht kommende intransitive nicken im Mittelalter je etwas anderes bedeutet habe, [210] als was wir heute darunter verstehen (daher es denn auch zweifelhaft sein mag, ob dieses nicken richtig zu hnigan gestellt wird, und nicht vielmehr samt genicke mit ags. hnëcca, weiterhin mit altn. hnakkr, hnakki, ahd. hnac, hnacco und den dazu wieder korrekt ablautenden mhd. nuc, nücken, entnücken zu verbinden ist). — 6. undi für du ergibt sich als Konsequenz der Ausschaltung von V. c—i. — 1. Was „jener Schlauch“ hier sein soll, verstehe ich nicht recht. Sinn und Melodie sprechen in gleicher Weise dafür, daß Diemer, Anm. S. 48 mit dinin für ginin das Richtige getroffen hat.

NOTES

1 Entnommen den Prager Deutschen Studien (Verlag von Carl Bellmann), Band 8, Prag 1908, S. 179 ff.

2 Einen ersten vorläufigen Bericht über das neue Problem enthält meine Rede „Über Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung“ (Leipziger Rektoratsprogramm 1901, wieder abgedruckt in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie 1, 76 ff., und in Ilberg- Richters Neuen Jahrbüchern 1902, Abt. I, Bd. 9, 58 ff.). Einiges Weitere (namentlich auch über das Auftreten analoger Erscheinungen in der Prosa) habe ich in einem (ungedruckt gebliebenen) Vortrag auf der Hallischen Philologenversammlung vom Jahre 1903 hinzu gefügt (s. Verhandlungen der 47. Phil.-Vers., Leipzig 1904, S. 33 f. [und jetzt oben S. 78 ff.

3 Um einen solchen Schlüssel richtig fassen und beurteilen zu können, muß man freilich das vorgeschlagene Experiment auch wirklich durchführen, und dazu soviel guten Willen mitbringen, daß man sich erst einmal das Ganze nach den gegebenen Vorschriften laut vorträgt (und womöglich öfter als nur einmal), ehe man mit der (wie ich aus vielfältiger Erfahrung im mündlichen Verkehr weiß) sehr beliebten Negativformel: 'Es geht auch anders’ einsetzt. Gewiß kann man die einzelne Zeile oder Stelle, namentlich wenn man sie aus ihrem Zusammenhang loslöst, oft anders lesen, als ich es unten vorschlage: entscheiden kann aber nur der Gesamtbefund. Überdies erfordert das Beobachten, sowohl was das (nicht mit kunstvoller oder gar pathetischer Deklamation zu verwechselnde) analysierende Lesen als was das Hören angeht, immerhin eine gewisse Technik, die nie ohne Geduld und Übung, manchmal auch nicht ohne eine ziemliche Dosis von Selbstüberwindung zu erlernen ist.

4 Zuerst in den Forschungen zur deutschen Philologie, Fest­gabe für R. Hüdebrand, Leipzig 1894, S. 12 Fußnote, dann auch in der oben erwähnten Rede S. 23 ff. Dort ist noch von einem Gegen­satz zwischen nord-, mittel- und süddeutschem System der Intonation die Rede: ich glaube jetzt sagen zu können, daß es sich ursprüng­lich um den Gegensatz nur zweier Systeme handelt, die sich a potiori als das niederdeutsche und das hochdeutsche bezeichnen lassen. — Ich habe übrigens im folgenden die Angaben über die niederdeutsche Weise nur deswegen vorangestellt, weil ich selbst ihr folge und daher zuerst nach ihr analysiere. [S. jetzt oben S. 10. 63. 86 f.]

5 Über diesen Begriff s. meine Metr. Studien (= Abh. der k. Sachs. Ges. d. Wiss. XXIII, 1), S. 49, § 33; (ähnlich vorher Phonetik4 § 599 = 5 § 635); über genau analoge Erscheinungen in der Musik H. Riemann, Die Elemente der musikalischen Ästhetik, Berlin und Stuttgart [1900] S. 41 f. System der musikalischen Rhyth­mik und Metrik, Leipzig 1903, S. VIII f. 13 ff.

6 Daß diese Brüche mit den schematischen Fußgrenzen nichts zu tun haben, ist wohl selbstverständlich: sie können mit ihnen zusammenfallen, brauchen es aber nicht. Vgl. dazu meine Phonetik5 § 621. 623. 633—635.

7 Ein deutliches äußeres Anzeichen dafür ist, beiläufig bemerkt, daß man an den Bruchstellen den Hiatus nicht durch Elision be­seitigen darf; vgl. mer | danni | ein | jar 3, 2, daz habitich | gerni | irrundin 4, 4, losi| uzzidirri | noti 5, 6, ich gesihi | ein wib | lussam 7, 3, su betti | als| ir| was11, 4, dáz ich dis | ármin | gilóubigin 11, 7 gegen habiter | 4, 2. 7, 2. 10, 6, habitich J 4, 4, ni loser | 5, 7, santer | 12, 1 (kuntiz 12, 2 s. unten Nr. 28 zur Stelle).

8 Über diesen Unterschied von toten und rhythmischen Pausen

9 Man wolle beachten, daß es sich hier um die Fußzeit als Ganzes, nicht etwa um ihre Aufteilung auf Hebung und Senkung handelt: die letztere ist frei, nicht an das Schema 2 : 2 oder 1:1 usw. gebunden.

10 Daß im Gegenteil in 6, 7 zu uzzir der, in 11, 7 daz ich dis zu ergänzen ist, ist unten in Nr. 28 zu 1, 8 und 11, 7 ausgeführt. — Man beachte bei der ganzen Frage, daß alle die vier­ silbigen Füße unseres Gedichtes die natürliche Akzentstellung x´ x `x x haben, die dem rhythmischen Schema des 4/4-Taktes (mit rhyth­mischem Nebenton auf dem dritten Viertel) genau entspricht. — Fünfsilbige Füße sind allerdings bei einem noch so scharf am Takt hangenden Text praktisch ausgeschlossen, daher war in 1, 8 iri, in 3, 4 deri zu ir und der zu reduzieren. Das Nähere darüber s. in Nr. 28 zu 1, 8; ebenda auch über den zu korrigierenden Vers 5, 8.

11 4 lernin 5 daz niman] noch 6 nicheini] niman rach heini 7 noch] niheini; lies noch einic antwurti? 8 wari mid iri* c un d diuri* β inbilibin

12 1 Do gi wan olofemi 4 thuisint 7 bi sazzit || hezzit

13 [1 Herr F. Pogatscher macht mich darauf aufmerksam, daß diese Zeile (gegen S. 138 f.) doch aus dem melodischen Rahmen herausfällt. Der Fehler läßt sich aber durch die Lesung Do sazzer drumbi, daz is war zwanglos beseitigen] 3 mid || gnechtin 4 alli dagi gi zideri burc 5 drinni* 6 ir chomen 7 dir | uori*

14 5 f. burgeri iehin odir ani wen si sich h. uir | sehin

15 d dir fehlt Drei Jüngl. 6, 4 h davor kuninc nabuchodo- nosor || drugi dinc

16 3 nu] ir; vgl. c 5 unsich* 7 nu || unsich* 8 hi] in dirri burc

17 1 gi ded 2 wol* b sagichuv 3 so || dizallic schonis; vgl. 1, 3 4 ir* c undi 7 der*

18 5. 6 in der Hs. vor 3: die Umstellung und Ergänzung nach Scherer

19 1 Di* 2 dar 4 drugin*

20 b un 5 dragin zasamini* 8 urouy || dun 10,

21 1 dragin* c ava f wm 5 dranc 7 Hofmann ergänzt vrudi, Stein­meyer denkt zweifelndan guti nachj. Jud. 169, 22 Diemer

22 1 kunic druc* 4 alsir* 5 davor su sprah [Herr Pogatscher moniert wieder (vgl. zu 3, 1) mit Recht, daß Z. 5 f. melodisch ab­weichen, daß aber das Reimpaar fast wörtlich auch im Rother wiederkehrt (daz weiz der waldindinger got der mer zo lebene gebot 214f., 522f.; vgl. ferner 1010. 2340) und wir es also vermutlich mit einer traditionellen Formel zu tun haben] 7 dis*

23 1 eingil 2 lies der gibot ? g daz su meddewaz h wiblichi i un slabranihichi. 6 du sla l ginin stuchin 8 in der hurgi m voni

24 Über die Einwirkung von Konsonanten auf die Tonhöhe überhaupt vgl. meine Phonetik6 § 665; der oben angezogene Fall gehört unter das, was ich ebenda § 254 über Verallgemeinerung von Spannungsverhältnissen ausgeführt habe, nur daß es sich hier speziell um Übertragung bei Lautkontakten handelt.

25 Die auslautenden 6 in lib, wib usw. habe ich belassen, weil man sie beim Lesen doch unwillkürlich stimmlos spricht, so daß sie nicht weiter stören.

26 Da es sich hier um sog. mechanische Beeinflussungen der Tonhöhe handelt, gehen hier nieder- und hochdeutsche Intonation zusammen: die sonst übliche Umlegung findet also nicht statt (vgl. Phonetik5 § 665).

27 Umsetzung von d in t und umgekehrt (gegen den Gebrauch des Autors) gibt beim Lesen oft sehr drastische Resultate. Man lese sich z. B. einmal eine beliebige Heliandpartie mit hoch­deutschem Konsonantismus (oder eventuell auch nur mit t für d) vor: man wird da finden, daß die gesamte Melodie in die Brüche geht. Ebenso verlangt aber z. B. auch das Hildebrandslied gebieterisch die überlieferten hochdeutschen t: ein neuer Beweis für dessen ursprünglich hochdeutsche [lies: "gemischte"!] Form.

28 Vgl. iren vindet nu decheinen wis decheine geinrede an mir Parz. 255, 28 (Mhd. Wb. 3, 318b). Das etwas befremdliche uzzir ist immerhin zu verstehen.

This document is unfortunately not available for download at the moment.

Not implemented yet !