Shaw und die Lebenskraft des Abendlandes

Edmund Husserl

pp. 743-744


„Der Untergang des Abendlandes“, diese neueste Theorie eines schwachherzigen philosophischen Skeptizismus, was könnte sie uns viel Sorge machen in einer Zeit, da Shaw’s Komödien allüberall die Herzen erobern und jenen Glauben einpflanzen, der alle echte Wissenschaft und alles echte Leben trägt und jedweden Skeptizismus zerstieben läßt. Wir sind es ja, in denen das „Abendland“ lebt, ob in Erniedrigung oder Erhöhung — wie wir wollen. Gott hätte seine Hand von uns abgezogen? Gottes Kraft lebt und vollendet sich nirgend anders, denn in uns, in unserem wurzelechten Willen. Wo anders wirkt er, der lebendige Gott, denn in unserem Leben, in unserem reinen Willen, dem bis in die letzten Wurzeln wahrhaftigen, dem, der nichts anderes will, als wovon wir nicht lassen können, ohne unser Leben als ein sinnloses aufgeben zu müssen.

Bernard Shaw ist nicht der Einzige, in dem solche den innersten Lebenswillen umwandelnde Überzeugungen erwachsen sind und zu einer revolutionären Kraft der europäischen Zivilisation werden wollen. An Weite und Kraft der Wirkung kommt ihm niemand gleich — dank seiner Methode. Seine leidenschaftliche Reaktion gegen den Naturalismus, der das echte Menschentum, das Leben aus persönlicher Selbstverantwortung ertötete, sowie gegen dessen Begleiterscheinung, die Kunst der Aestheten, die Wissenschaft der Spezialisten, die Religion der konventionalisierten Kirchen usw. vollzieht sich in der Sprache künstlerischer Gebilde. Mit unerhörter Wucht durchbricht seine Kunst die Schranken zwischen der Lebensaktualität des Zuschauers und ihren bildhaften Gestalten, sie wird in seinen Händen zu einer Macht des Lebens selbst und seiner sozial-ethischen und religiösen Erneuerung. Mit dem beständigen Wiederholen „de te fabula narratur“ trifft sie uns mitten ins Herz, uns nicht als bloß private Menschen, sondern als Glieder der sozialen Umwelt. Shaw ist ein unvergleichlicher Wecker des sozialen Gewissens und Glaubens, daß keine Welt, die für uns ist, bloß ist, sondern daß eine jede eben die ist, zu der wir sie aus Kraft oder Schwäche, aus gewissenlosem Egoismus oder aus der Macht unserer wahren Freiheit werden lassen oder machen. Mit einem Worte, der Künstler Shaw ist der wirksamste Prediger der europäischen Gegenwart und ihr radikalster kritischer Zuchtmeister, unermüdlich in der Enthüllung aller Verlogenheiten und wohlmeinenden Unechtheiten, aller intellektuellen und praktischen Vorurteile in allen erdenklichen Verkleidungen. Aber niemand übertrifft ihn an reiner Menschenliebe, vor der aller Haß dahinschmilzt, und an wahrhaftiger Wahrhaftigkeit, die auch sich selbst nicht schont. Ein echt philosophischer Zug seiner Kunst liegt in der Universalität ihrer sozialpsychologischen Analyse und exemplarischen Gestaltung, die nicht in der Halbheit stecken bleibt, Menschen und Schicksale in der Vereinzelung darzustellen, sondern sie in den konkreten Einheitszusammenhang der ganzen sozialen Kultur als ihres sozialen Milieus hineinstellt und sie in ihrer universalen Bedeutung und Motivationskraft wirksam macht.

Daß Shaws Bannwort gegenüber dem Naturalismus lautet: „Ich bin“, eben dieses Wort bezeichnet — als wissenschaftliches Thema — eine ganz andersartige Methode der Erneuerung des Lebens, die statt den Weg einer echten und dem Leben dienenden Kunst vielmehr den einer echten, dem Leben dienenden Wissenschaft geht. Ich meine natürlich den der „phänomenologischen Philosophie". Ihr Arbeitsfeld liegt in schwer zugänglichen Einsamkeiten, denen der „Mütter“ aller Erkenntnis. Denn es ist abgesehen auf die Erneuerung der Wissenschaft auf Grund der radikalsten Selbstbesinnung auf ihre Urquellen im Leben, im „ich lebe“ und „wir in Gemeinschaft leben“, m. a. W. auf Grund einer radikalen Selbstauslegung des Lebens, in dem die Wissenschaft selbst erwächst und erwächst als dienende Funktion eines echten Lebens. Es gilt die Herstellung einer sich bis ins Letzte verstehenden und rechtfertigenden Wissenschaft auf dem Wege über eine letztmögliche Steigerung der Vorurteilslosigkeit, die bis an die letzterdenkliche Grenze des Unglaubens zurückgeht, um die Unzerbrechlichkeiten, die prinzipiellen Glaubensnotwendigkeiten zu gewinnen, die rhizómata pánton. Und es gilt zu zeigen, daß der einzige echte Sinn der Wissenschaft der ist, dem universalen Leben das klare Geistesauge einzugestalten, danach es sich und seinen Zwecksinn verstehen und danach praktisch das werden kann, was Bernard Shaw seinerseits ersehnt und will. So sind wir im Endziele Genossen, nur daß ich das Glück habe, mich an seiner Kunst zu erquicken, belehren und stärken zu dürfen. Und so hat der weltferne Philosoph ein Recht, hier mitsprechen und herzlich mitdanken zu dürfen.

Dieses Manuskript aus dem Nachlaß Edmund Husserls wurde uns durch Vermittlung von Professor Ludwig Landgrebe (Kiel) für einen dem Andenken an Husserl gewidmeten Aufsatz freundlichst vom Husserl-Archiv zur Verfügung gestellt.

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Re-editions
(1989) "Beilage XI: Shaw und die Lebenskraft des Abendlandes", in: Husserl Edmund, Aufsätze und Vorträge: (1922-1937), Dordrecht, Kluwer, pp.122-124.