Die Syllogistik in psychologistischer Beleuchtung

Schlussformeln und chemische Formeln

Edmund Husserl

pp. 110-117


§ 30. Versuche zur psychologischen Interpretation der syllogistischen Sätze

Wir haben in den Ausführungen des letzten Kapitels vorzugsweise den Satz des Widerspruchs zugrunde gelegt, weil gerade bei diesem, wie bei den Grundsätzen überhaupt, die Versuchung zur psychologistischen Auffassung sehr groß ist. Die Gedankenmotive, die zu ihr hindrängen, haben in der Tat einen starken Anstrich von Selbstverständlichkeit. Überdies läßt man sich auf die spezielle Durchführung der empiristischen Doktrin bei den Schlußgesetzen seltener ein; vermöge ihrer Reduktibilität auf die Grundsätze glaubt man bei ihnen jeder weiteren Bemühung enthoben zu sein. Sind diese Axiome psychologische Gesetze, und sind die syllogistischen Gesetze rein deduktive Konsequenzen der Axiome, dann müssen auch die syllogistischen Gesetze als psychologische gelten. Man sollte nun meinen, daß jeder FehlSchluß eine entscheidende Gegeninstanz abgeben müsse, und daß also aus dieser Deduktion vielmehr ein Argument gegen die Möglichkeit jeder psychologischen Deutung der Axiome zu entnehmen sei. Man sollte ferner meinen, daß die nötige Sorgsamkeit in der gedanklichen und sprachlichen Fixierung des prätendierten psychologischen Gehalts der Axiome den Empiristen überzeugen müßte, daß sie in solcher Interpretation auch nicht den kleinsten Beitrag zum Beweise der Schlußformeln leisten können, und daß, wo immer solch ein Beweis statthat, die Ausgangspunkte ebenso wie die Endpunkte den Charakter von Gesetzen haben, die von dem, was in der Psychologie Gesetz heißt, toto coelo verschieden sind. Aber selbst die klarsten Widerlegungen scheitern an der Überzeugungsfreudigkeit der psychologistischen Lehre. G. Hey-mans, welcher diese Lehre neuerdings ausführlich entwickelt hat, nimmt an der Existenz von Fehlschlüssen so wenig Anstoß, daß er in der Möglichkeit, einen Fehlschluß nachzuweisen, sogar eine Bestätigung der psychologischen Auffassung sieht; denn dieser Nachweis bestehe nicht darin, denjenigen, der noch nicht nach dem Satze des Widerspruchs denke, eines Besseren zu belehren, sondern darin, den im Fehlschluß unvermerkt begangenen Widerspruch aufzuzeigen. Man möchte hier fragen, ob unbemerkte Widersprüche nicht auch Widersprüche sind, und ob das logische Prinzip nur die Unvereinbarkeit bemerkter Widersprüche aussage, während es bei unbemerkten zulasse, daß sie zusammen wahr seien. Es ist wieder klar — man denke nur an den Unterschied der psychologischen und logischen Unvereinbarkeit — daß wir uns in der trüben Sphäre der schon besprochenen Äquivokationen herumtreiben.

Wollte man noch sagen, die Rede von "unvermerkten" Widersprüchen, die der Fehlschluß enthalte, sei eine uneigentliche; erst im Verlaufe des widerlegenden Gedankenganges trete der Widerspruch als Neues auf, er stelle sich als Folge der irrigen Schlußweise ein und daran knüpfte sich (immer psychologisch verstanden) die weitere Folge, daß wir uns nun auch genötigt sehen, diese Schlußweise als irrig zu verwerfen — so wäre uns wenig gedient. Die eine Gedankenbewegung hat diesen, eine andere wieder einen anderen Erfolg. Kein psychologisches Gesetz bindet die "Widerlegung" an den Fehlschluß. Jedenfalls tritt er in unzähligen Fällen ohne sie auf und behauptet sich in der Überzeugung. Wie kommt also gerade die eine Gedankenbewegung, die sich nur unter gewissen psychischen Umständen an den Trugschluß anknüpft, zu dem Rechte, ihm einen Widerspruch schlechthin zuzuschieben, und ihm nicht bloß die "Gültigkeit" unter diesen Umständen, sondern die objektive, absolute Gültigkeit abzustreiten? Genau ebenso verhält es sich natürlich bei den "richtigen" Schlußformen in Beziehung auf ihre rechtfertigende Begründung durch die logischen Axiome. Wie kommt der begründende Gedankengang, der nur unter gewissen psychischen Umständen eintritt, zu dem Anspruch, die bezügliche Schlußform als schlechthin gültige auszuzeichnen? Für derartige Fragen hat die psychologistische Lehre keine annehmbare Antwort; es fehlt ihr hier wie überall die Möglichkeit, den objektiven Gültigkeitsanspruch der logischen Wahrheiten, und damit auch ihre Funktion als absolute Normen des richtigen und falschen Urteilens, zum Verständnis zu bringen. Wie oft ist dieser Einwand erhoben, wie oft ist bemerkt worden, daß die Identifikation von logischem und psychologischem Gesetz auch jeden Unterschied zwischen richtigem und irrigem Denken aufhöbe, da die irrigen Urteilsweisen nicht minder nach psychologischen Gesetzen erfolgen als die richtigen. Oder sollten wir, etwa auf Grund einer willkürlichen Konvention, die Ergebnisse gewisser Gesetzlichkeiten als richtig, diejenigen anderer als irrig bezeichnen? Was antwortet der Empirist auf solche Einwände? "Allerdings strebt das auf Wahrheit gerichtete Denken darnach, widerspruchslose Gedankenverbindungen zu erzeugen; aber der Wert dieser widerspruchslosen Gedankenverbindungen liegt doch eben wieder in dem Umstande, daß tatsächlich nur das Widerspruchslose bejaht werden kann, daß also der Satz des Widerspruchs ein Naturgesetz des Denkens ist."* Heymans a. a. O., I1, S. 70. So sagte ja auch F. A. Lange (vgl. den letzten Absatz des längeren Zitates aus den Log. Studien, oben S. 95), die tatsächliche Aufhebung des Widersprechenden in unseren Urteilen sei der letzte Grund der logischen Regeln. Ein sonderbares Streben, wird man sagen, das dem Denken hier zugemutet wird, ein Streben nach widerspruchslosen Gedankenverbindungen, während es andere als widerspruchslose Verbindungen überhaupt nicht gibt und nicht geben kann — so zum mindesten, wenn das "Naturgesetz" wirklich besteht, von dem hier die Rede ist. Oder ist es ein besseres Argument, wenn man sagt: "Wir haben keinen einzigen Grund, die Verbindung zweier sich widersprechender Urteile als "unrichtig" zu verurteilen, wenn nicht eben diesen, daß wir instinktiv und unmittelbar die Unmöglichkeit empfinden, die beiderseitigen Urteile gleichzeitig zu bejahen. Man versuche es nun, unabhängig von dieser Tatsache zu beweisen, daß nur das Widerspruchslose bejaht werden darf: man wird immer wieder, um den Beweis führen zu können, das zu Beweisende voraussetzen müssen" (a.a.O., S. 69f.). Man erkennt ohne weiteres die Wirksamkeit der oben analysierten Äquivokationen: die Einsicht in das logische Gesetz, daß kontradiktorische Sätze nicht zusammen wahr sind, wird identifiziert mit der instinktiven und vermeintlich unmittelbaren "Empfindung" der psychologischen Unfähigkeit, kontradiktorische Urteilsakte gleichzeitig zu vollziehen. Evidenz und blinde Überzeugung, exakte und empirische Allgemeinheit, logische Unverträglichkeit der Sachverhalte und psychologische Unverträglichkeit der Glaubensakte, also Nicht-zusammen-wahrsein-können und Nicht-zugleich-glauben-können fließen in eins zusammen.

§ 31. Schlußformeln und chemische Formeln

Die Lehre, daß die Schlußformeln "empirische Gesetze des Denkens" ausdrücken, versucht Heymans durch den Vergleich mit den chemischen Formeln plausibler zu machen. "Genau so, wie in der chemischen Formel 2H2 + O2 = 2H20 nur die allgemeine Tatsache zum Ausdruck kommt, daß zwei Volumen Wasserstoff mit einem Volumen Sauerstoff sich unter geeigneten Umständen zu zwei Volumen Wasser verbinden, — genau so sagt die logische Formel

MaX + MaY = YiX + XiY

nur aus, daß zwei allgemein bejahende Urteile mit gemeinschaftlichem Subjektbegriff unter geeigneten Umständen im Bewußtsein zwei neue partikulär bejahende Urteile erzeugen, in denen die Prädikatbegriffe der ursprünglichen Urteile als Prädikat- und Subjektbegriff auftreten. Warum in diesem Falle eine Erzeugung neuer Urteile stattfindet, dagegen etwa bei der Kombination MeX + MeY nicht, davon wissen wir zurzeit noch nichts. Von der unerschütterlichen Notwendigkeit aber, welche diese Verhältnisse beherrscht, und welche, wenn die Prämissen zugegeben sind, uns zwingt, auch die Schlußfolgerung für wahr zu halten, möge man sich durch Wiederholung der ... Experimente überzeugen."* Heymans, a. a. O., S. 62 f. Diese Experimente sind natürlich "unter Ausschließung aller störenden Einflüsse" anzustellen und bestehen darin, "daß man die betreffenden Prämissenurteile möglichst klar sich vergegenwärtigen, dann den Mechanismus des Denkens wirken lassen und die Erzeugung oder Nichterzeugung eines neuen Urteils abwarten muß". Kommt aber ein neues Urteil wirklich zustande, dann muß man scharf Zusehen, ob vielleicht außer Anfangs- und Endpunkt des Prozesses noch einzelne Zwischenstadien ins Bewußtsein treten und diese in möglichster Genauigkeit und Vollständigkeit notieren.* a. a. O., S. 56 f.

Was uns bei dieser Auffassung überrascht, ist die Behauptung, daß bei den von Logikern ausgeschlossenen Kombinationen keine Erzeugung neuer Urteile statthabe. In Beziehung auf jeden Fehlschluß, z.B. der Form

XeM + MeY = XeY

wird man doch sagen müssen, daß allgemein zwei Urteile der Formen XeM und MeY "unter geeigneten Umständen" im Bewußtsein ein neues Urteil ergeben. Die Analogie mit den chemischen Formeln paßt hier genau so recht und schlecht wie in den anderen Fällen. Natürlich ist darauf nicht die Entgegnung zulässig, daß die "Umstände" in dem einen und anderen Falle ungleich seien. Psychologisch sind sie alle von gleichem Interesse und die zugehörigen empirischen Sätze von gleichem Wert. Warum machen wir also diesen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Klassen von Formeln? Würde man uns diese Frage vorlegen, so würden wir natürlich antworten: Weil wir in Beziehung auf die einen zur Einsicht gekommen sind, daß, was sie ausdrücken, Wahrheiten, und in Beziehung auf die anderen, daß es Falschheiten sind. Diese Antwort kann aber der Empirist nicht geben. Unter Voraussetzung der von ihm angenommenen Interpretationen sind ja die den Fehlschlüssen entsprechenden empirischen Sätze in gleicher Weise gültig, wie die den übrigen Schlüssen entsprechenden.

Der Empirist beruft sich auf die Erfahrung der "unerschütterlichen Notwendigkeit", welche, "wenn die Prämissen gegeben sind, uns zwingt, auch die Schlußfolgerung für wahr zu halten". Aber alle Schlüsse, ob logisch gerechtfertigt oder nicht, vollziehen sich mit psychologischer Notwendigkeit, und auch der (allerdings nur unter Umständen) fühlbare Zwang ist überall derselbe. Wer einen begangenen Fehlschluß allen kritischen Einwänden zum Trotze immerfort aufrechthält, fühlt die "unerschütterliche Notwendigkeit", den Zwang des Nichtanderskön-nens — er fühlt ihn genau so wie derjenige, der richtig schließt und auf der erkannten Richtigkeit bestehen bleibt. Wie alles Urteilen, so ist eben auch das Schließen nicht Sache der Willkür. Diese gefühlte Unerschütterlichkeit ist so wenig ein Zeugnis für wirklicheA: wahrhafte┐1. Unerschütterlichkeit, daß sie vermöge neuer Urteilsmotive, und zwar selbst im Falle richtiger und als richtig erkannter Schlüsse, weichen mag. Sie darf man also nicht vermengen mit der echten, logischen Notwendigkeit, die zu jedem richtigen Schlusse gehört, und die nichts anderes besagt und besagen darf, als wie die einsichtig zu erkennende (obschon nicht von jedem Urteilenden wirklich erkannte) ideal-gesetzliche Geltung des Schlusses. Die Gesetzlichkeit der Geltung als solche tritt allerdings erst hervor in der einsichtigen Erfassung des Schlußgesetzes; im Vergleich mit ihr erscheint die Einsichtigkeit des hic et nunc vollzogenen Schlusses als Einsicht in die notwendige Geltung des Einzelfalles, d.i. in die Geltung desselben auf Grund des Gesetzes.

Der Empirist meint, wir wüßten "zurzeit noch nichts" darüber, warum die in der Logik verworfenen Prämissenkombinationen "kein Ergebnis lieferten". Also von einem künftigen Fortschritt der Erkenntnis erhofft er reichere Belehrung? Man sollte denken, hier wüßten wir alles, was sich überhaupt wissen läßt; haben wir doch die Einsicht, daß jede überhaupt mögliche (d.h. in den Rahmen der syllogistischen Kombinationen fallende) Form von Schlußsätzen in Verknüpfung mit den fraglichen Prämissenkombinationen ein falsches Schlußgesetz liefern würde; man sollte denken, daß in diesen Fällen auch für einen unendlich vollkommenen Intellekt ein Mehr an Wissen schlechterdings nicht möglich wäre.

An diese und ähnliche Einwände würde sich noch ein andersartiger knüpfen lassen, der, obschon nicht minder kräftig, für unsere Zwecke minder wichtig erscheint. Es ist nämlich unzweifelhaft, daß die Analogie mit den chemischen Formeln nicht eben weit reicht, ich meine nicht so weit, daß wir Anlaß fänden, neben den logischen Gesetzen die mit ihnen verwechselten psychologischen pathetisch zu nehmen. Im Falle der Chemie kennen wir die "Umstände", unter denen die formelhaft ausgedrückten Synthesen erfolgen, sie sind in erheblichem Maße exakt bestimmbar, und eben darum rechnen wir die chemischen Formeln zu den wertvollsten Induktionen der Naturwissenschaft. Im Falle der Psychologie hingegen bedeutet die uns erreichbare Kenntnis der Umstände so wenig, daß wir schließlich nicht weiter kommen als zu sagen: daß es eben öfter vorkommt, daß Menschen den logischen Gesetzen konform schließen, wobei gewisse exakt nicht zu umgrenzende Umstände, eine gewisse "Anspannung der Aufmerksamkeit", eine gewisse "geistige Frische", eine gewisse "Vorbildung" u. dgl. begünstigende Bedingungen für das Zustandekommen eines logischen Schlußaktes sind. Die Umstände oder Bedingungen im strengen Sinne, unter denen der schließende Urteilsakt mit kausalerZusatz von B. Notwendigkeit hervorgeht, sind uns ganz verborgen. Bei der gegebenen Sachlage ist es auch wohl begreiflich, warum es bisher keinem Psychologen eingefallen ist, die den mannigfaltigen Schlußformeln zuzuordnenden und durch jene vagen Umstände charakterisierten Allgemeinheiten in der Psychologie einzelweise aufzuführen und mit dem Titel "Denkgesetze" zu ehren.

Nach alledem werden wir wohl auch Heymans’ interessanten (und in vielen hier nicht berührten Einzelheiten anregenden) Versuch einer "Erkenntnistheorie, die man auch Chemie der Urteile nennen könnte"* Heymans, a. a. O., S. 30. und die "nichts weiter sei, als eine Psychologie des Denkens"** a. a. O., S. 10., zu den im Kantschen Sinne hoffnungslosen rechnen dürfen. In der Ablehnung der psychologistischen Interpretationen werden wir jedenfalls nicht schwanken können. Die Schlußformeln haben nicht den ihnen unterlegten empirischen Gehalt; ihre wahre Bedeutung tritt am klarsten hervor, wenn wir sie in äquivalenten idealen Unverträglichkeiten aussprechen. Z.B.: Es gilt allgemein, daß nicht zwei Sätze der Formen "alle M sind X" und "kein P ist M" wahr sind, ohne daß auch ein Satz der Form "einige X sind nicht P" wahr wäre. Und so in jedem Falle. Von einem Bewußtsein, von Urteilsakten und Umständen des Urteilens u. dgl. ist hier keine Rede. Hält man sich den wahren Gehalt der Schlußgesetze vor Augen, dann verschwindet auch der irrige Schein, als ob die experimentelle Erzeugung des einsichtigen Urteils, in dem wir das Schlußgesetz anerkennen, eine experimentelle Begründung des Schlußgesetzes selbst bedeuten oder einleiten könnte.

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