Schluss der kritischen Betrachtungen

Edmund Husserl

pp. 214-229


§ 57. Bedenken mit Rücksicht auf naheliegende Mißdeutungen unserer logischen Bestrebungen

Unsere bisherigen Untersuchungen waren vorwiegend kritisch. Die Unhaltbarkeit einer jeden, wie immer gearteten Form von empiristischer oder psychologistischer Logik glauben wir durch sie dargetan zu haben. Die Logik im Sinne einer wissenschaftlichen Methodologie hat ihre vornehmsten Fundamente außerhalb der Psychologie. Die Idee einer "reinen Logik" als einer theoretischen, von aller Empirie, also auch Psychologie, unabhängigen Wissenschaft, welche eine Technologie des wissenschaftlichen Erkennens (die Logik im gemeinen theoretisch-praktischen Sinne) allererst ermöglicht, muß als triftig zugestanden, die unabweisbare Aufgabe, sie in ihrer Selbständigkeit aufzubauen, muß ernstlich in Angriff genommen werden. — Dürfen wir uns mit diesen Ergebnissen begnügen, ja dürfen wir hoffen, daß sie als Ergebnisse anerkannt werden? Also die Logik unserer Zeit hätte sich in untriftigen Bahnen vergeblich abgemüht — diese ihrer Erfolge gewisse, von so bedeutenden Forschern bearbeitete und durch weitverbreitete Anerkennung ausgezeichnete Wissenschaft?* Wenn O. Külpe (Einleitung in die Philosophie, 1895, S. 44) von der Logik sagt, sie sei "zweifellos nicht nur eine der bestentwickelten philosophischen Disziplinen, sondern auch eine der sichersten und abgeschlossensten", so mag dies ja richtig sein; aber bei der Schätzung der wissenschaftlichen Sicherheit und Geschlossenheit der Logik, welche sich mir ergeben hat, müßte ich dies zugleich als AnzeichenA: Anzeige. für den tiefen Stand der wissenschaftlichen Philosophie unserer Tage auffassen. Und daranA: darauf. würde ich die Frage knüpfenA: anknüpfen.: Sollte es nicht doch möglich sein, dieser traurigen Sachlage allmählich ein Ende zu bereiten, wenn sich alle wissen|schaftliche Denkenergie darauf richtete, die scharf formulierbaren und zuallernächst sicher lösbaren Probleme zu erledigen, mögen sie, an und für sich betrachtet, auch noch so eingeschränkt, nüchtern und vielleicht gar interesselos erscheinen? Dies betrifft aber, wie ohne weiteres ersichtlich, in erster Linie die reine Logik und Erkenntnislehre. An exakter, sicher anzufassender, ein für allemal zu erledigender Arbeit ist hier Überfluß. Man braucht nur zuzugreifen. Verdanken doch auch die "exakten Wissenschaften" (wozu man die genannten Disziplinen sicherlich dereinst rechnen wird) ihre ganze Größe dieser Bescheidenheit, die mit dem geringsten fürliebnimmt und, um ein bekanntes Wort anzuwenden, "im kleinsten Punkte ihre ganze Kraft sammelt". Die vom Standpunkt des Ganzen geringfügigen, wenn nur sicheren Anfänge bewähren sich ihnen immer wieder als Grundlagen für mächtige Fortschritte. Gewiß betätigt sich diese Gesinnung schon jetzt überall in der Philosophie; aber, wie ich einzusehen gelernt habe, zumeist in verfehlter Richtung, nämlich so, daß die beste wissenschaftliche Energie der Psychologie zugewendet wird — der Psychologie als einer erklärenden Naturwissenschaft, an welcher die Philosophie nicht mehr und nicht anders interessiert ist als an den Wissenschaften von den physischen Vorgängen. Eben dies freilich will man nicht gelten lassen, ja man spricht gerade mit Beziehung auf die psychologische Fundierung der philosophischen Disziplinen von errungenen großen Fortschritten. Und nicht zum mindesten tut man dies in der Logik. Es ist, wenn ich recht sehe, eine sehr verbreitete Auffassung der Dinge, welcher Elsenhans neuerdings Ausdruck verleiht mit den Worten: "Wenn die Logik der Gegenwart mit wachsendem Erfolg die logischen Probleme bearbeitet, so verdankt sie dies vor allem der psychologischen Vertiefung in ihren Gegenstand" (Zeitschrift für Philosophie, Bd. 109 [1896], S. 203). Vermutlich hätte ich vor Beginn der vorliegenden Untersuchungen bzw. vor Erkenntnis der unlösbaren Schwierigkeiten, in welche mich die psychologistische Auffassung in der Philosophie der Mathematik verwickelte, genau ebenso gesprochen. Aber nun, wo ich die Irrigkeit dieser Auffassung aus klarsten Gründen einzusehen vermag, kann ich mich an der sonst vielversprechenden Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie zwar freuen und an ihr das lebhafteste Interesse nehmen, aber nicht als jemand, der von ihr eigentlich philosophische Aufklärungen erhofft. Doch muß ich, um nicht gänzlich mißverstanden zu werden, gleich hinzufügen, daß ich scharf unterscheide zwischen der empirischen Psychologie und der sie (wie in ganz anderer Weise die Erkenntniskritik) fundierenden Phänomenologie; letztere verstanden als eine reine Wesenslehre der ErlebnisseA: daß ich die deskriptive Phänomenologie der inneren Erfahrung, welche der empirischen Psychologie und, in ganz anderer Weise, zugleich der Erkenntniskritik zugrunde liegt, ausnehme.. Dies wird im II. BandeA: Teile. dieser Arbeit klar hervortreten. Das wird man kaum zugestehen wollen. Die idealistische Kritik mag bei der Erwägung der Prinzipienfragen Unbehagen erregen; aber der bloße Hinblick auf die stolze Reihe bedeutender Werke von Mill bis Erdmann und Lipps wird den meisten genügen, das wankende Vertrauen wiederherzustellen. Man wird sich sagen, es muß doch wohl Mittel geben, die Argumente irgendwie zu lösen und mit dem Inhalt der blühenden Wissenschaft in Einklang zu bringen, und wenn nicht, so mag es sich um eine bloße erkenntnistheoretische Umwertung der Wissenschaft handeln, die, wenn auch nicht unwichtig, so doch nicht von dem revolutionären Erfolge sein wird, ihren wesentlichen Gehalt aufzuheben. Allenfalls wird manches genauer zu fassen, einzelne unvorsichtige Ausführungen passend einzuschränken oder die Ordnung der Untersuchungen zu modifizieren sein. Es mag ja wirklich etwas für sich haben, die paar rein logischenA: rein-logischen. Sätze reinlich zusammenzustellen und von den empirisch-psychologischen Ausführungen der logischen Kunstlehre zu sondern. Mit derartigen Gedanken könnte sich mancher, der die Kraft der idealistischen Argumentation empfindet, aber nicht den nötigen Mut der Konsequenz besitzt, zufrieden geben.

Die radikale Umgestaltung, welche die Logik im Sinne unserer Auffassung notwendig erfahren muß, dürfte übrigens schon darum auf Antipathie und Mißtrauen stoßen, weil sie leicht, zumal bei oberflächlicher Betrachtung, als die pure Reaktion erscheinen könnte. Daß es auf dergleichen nicht abgesehen ist, daß die Wiederanknüpfung an berechtigte Tendenzen der älteren Philosophie nicht eine Restitution der traditionellen Logik ins Werk setzen will, dies müßte sich allerdings schon im genaueren Hinblick auf den Inhalt unserer Analysen herausstellen; aber schwerlich dürften wir viel Hoffnung darauf setzen, durch solche Hinweise alles Mißtrauen überwinden und der Mißdeutung unserer Intentionen Vorbeugen zu können.

§ 58. Unsere Anknüpfungen an große Denker der Vergangenheit und zunächst an Kant

Auch der Umstand, daß wir in der Lage sind, uns auf die Autorität großer Denker, wie Kant, Herbart und Lotze, und vordem schon Leibniz zu berufen, kann uns bei den herrschenden Vorurteilen nicht zur Stütze dienen. Ja, dies dürfte eher dazu beitragen, das Mißtrauen zu verstärken.

Wir finden uns, dem Allgemeinsten nach, auf Kants Scheidung der reinen und angewandten Logik zurückgeführt. In der Tat, den hervorstechendsten seiner diesbezüglichen Äußerungen können wir zustimmen. Freilich nur unter passenden Kautelen. Z.B. jene verwirrenden mythischen Begriffe, die Kant so sehr liebt und auch zur fraglichen Abgrenzung verwendet, ich meine die Begriffe Verstand und Vernunft, werden wir natürlich nicht in dem eigentlichen Sinne von Seelenvermögen akzeptieren. Verstand oder Vernunft, als Vermögen eines gewissen normalen Denkverhaltens, setzen in ihrem Begriffe die reine Logik — die ja das Normale definiert — voraus, und so wären wir, ernstlich auf sie rekurrierend, nicht eben klüger, als wenn wir in analogem Falle die Tanzkunst durch das Tanzvermögen (sc. das Vermögen kunstvoll zu tanzen), die Malkunst durch das Malvermögen usw. erklären wollten. Die Termini Verstand und Vernunft nehmen wir vielmehr als bloße Anzeigen für die Richtung auf die "Denkform" und ihre idealen Gesetze, welche die Logik im Gegensatz zur empirischen Psychologie der Erkenntnis einzuschlagen hat. Also nach derartigen Einschränkungen, Deutungen, näheren Bestimmungen fühlen wir uns Kants Lehren nahe.

Aber muß nicht eben diese Zusammenstimmung die Wirkung haben, unsere Auffassung der Logik zu kompromittieren? Die reine Logik (die eigentlich nur allein Wissenschaft sei) soll nach Kant "kurz und trocken" sein, "wie es die schulgerechte Darstellung einer Elementarlehre des Verstandes erfordert."A: kurz und trocken sein, sie wie schulgerechte Darstellung einer Elementarlehre des Verstandes es erfordere." .* Kritik d. r. V., Einleitung zur tr. Logik, I, WW, Hartensteinb, III, S. 83. Jedermann kennt die von Jäsche herausgegebenen Vorlesungen Kants und weiß, in welch bedenklichem Grade sie jener charakteristischen Forderung entsprechen. Also diese unsäglich dürftige Logik soll das Vorbild sein, dem wir nachstreben sollen? Mit dem Gedanken dieser Zurückschraubung der Wissenschaft auf den Standpunkt der aristotelisch-scholastischen Logik wird sich niemand befreundenA: bemengen. wollen. Und darauf scheint es ja hinauszulaufen, wie denn Kant selbst lehrt, die Logik habe seit Aristoteles den Charakter einer geschlossenen Wissenschaft. Die scholastische Ausspinnung der Syllogistik, eingeleitet von einigen feierlich vorgetragenen Begriffsbestimmungen — das ist keine eben erhebende Aussicht.

Wir würden darauf natürlich entgegnen: Daß wir uns Kants Auffassung der Logik näher fühlen als etwa derjenigen Mills oder Sigwarts, besagt nicht, daß wir den ganzen Inhalt derselben, daß wir die bestimmte Ausgestaltung, die er seiner Idee einer reinen Logik gegeben hat, billigen. Wir stimmen mit Kant in der hauptsächlichen Tendenz überein, wir finden aber nicht, daß er das Wesen der intendierten Disziplin klar durchschaut und sie selbst, nach ihrem angemessenen Gehalt, zur Darstellung gebracht hat.

§ 59. Anknüpfungen an Herbart und Lotze

Näher als Kant steht uns übrigens Herbart und hauptsächlich darum, weil bei ihm ein kardinaler Punkt zu schärferer Hervorhebung gelangtA: sich zu schärferer Hervorhebung entgegendrängt. und ausdrücklichZusatz von B. für die Unterscheidung zwischen rein Logischem und PsychologischemIn A folgt: auch. herangezogen wird, der in dieser Hinsicht in der Tat entscheidend ist, nämlich die Objektivität des "Begriffs", d.i. der VorStellung in rein logischem A: rein-logischen. Sinne.

"Jedes Gedachte" — so heißt es z.B. in dem psychologischen Hauptwerke* Herbart, Psychologie als Wissenschaft, II, § 120 (Orig. S. 175). — "bloß seiner Qualität nach betrachtet, ist im logischen Sinne ein Begriff." Hierbei "kommt nichts an auf das denkende Subjekt; einem solchen kann man nur im psychologischen Sinne Begriffe zueignen, während außerdem der Begriff des Menschen, des Triangels usw. niemandem eigentümlich gehört. Überhaupt ist in logischer Bedeutung jeder Begriff nur einmal vorhanden; welches nicht sein könnte, wenn die Anzahl der Begriffe zunähme mit der Anzahl der dieselben vorstellenden Subjekte oder gar mit der Anzahl der verschiedenen Akte des Denkens, wodurch, psychologisch betrachtet, ein Begriff erzeugt und hervorgebracht wird." "Die entia der älteren Philosophie, selbst noch bei Wolff, sind", so Fehlt in A. lesen wir (im selben Paragraphen a. a. O.) weiter, "nichts anderes als Begriffe im logischen Sinne ... Auch der alte Satz essentiae rerum sunt immutabiles gehört hierher. Er bedeutet nichts anderes, als: die Begriffe sind etwas völlig Unzeitliches; welches von ihnen in allen ihren logischen Verhältnissen wahr ist, daher auch die aus ihnen gebildeten wissenschaftlichen Sätze und Schlüsse für die Alten, so wie für uns — und am Himmel wie auf Erden — wahr sind und bleiben. Aber die Begriffe in diesem Sinne, in welchem sie ein gemeinschaftliches Wissen für alle Menschen und Zeiten darbieten, sind gar nichts Psychologisches ... In psychologischer Hinsicht ist ein Begriff diejenige VorStellung, welche den Begriff in logischer Bedeutung zu ihrem Vorgestellten hat; oder durch welche der letztere (das Vorzustellende) wirklich vorgestellt wird. So genommen, hat nun allerdings ein jeder seine Begriffe für sich; Archimedes untersuchte seinen eigenen Begriff vom Kreise, und Newton gleichfalls den seinigen; es waren dies zwei Begriffe im psychologischen Sinne, wiewohl in logischer Hinsicht nur ein einziger für alle Mathematiker."

Ähnliche Ausführungen finden wir im 2. Abschnitt des Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie. Gleich der erste Satz lautet:* Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie5, § 34, S. 77. "Unsere sämtlichen Gedanken lassen sich von zwei Seiten betrachten; teils als Tätigkeiten unseres Geistes, teils in Hinsicht dessen, was durch sie gedacht wird. In letzterer Beziehung heißen sie Begriffe, welches Wort, indem es das Begriffene bezeichnet, zu abstrahieren gebietet von der Art und Weise, wie wir den Gedanken empfangen, produzieren undA: oder. reproduzieren mögen." Im § a. a. O. leugnet Herbart, daß zwei Begriffe vollkommen gleich sein können; denn sie "würden sich in Hinsicht dessen, was durch sie gedacht wird, nicht unterscheiden, sie würden sich also als Begriffe überhaupt nicht unterscheiden. Dagegen kann das Denken eines und desselben Begriffes vielmal wiederholt, bei sehr verschiedenen Gelegenheiten erzeugt und hervorgerufen, von unzähligen Vemunftwesen vorgenommen werden, ohne daß der Begriff hierdurch vervielfältigt würde." Er mahnt in der Anmerkung, "sich wohl einzuprägen, daß Begriffe weder reale Gegenstände, noch wirkliche Akte des Denkens sind. Der letztere Irrtum ist noch jetzt wirksam; daher halten manche die Logik für eine Naturgeschichte des Verstandes und glauben, dessen angeborene Gesetze und Denkformen in ihr zu erkennen, wodurch die Psychologie verdorben wird." "Man kann", heißt es an einer anderen Stelle,** Psychol. als Wiss., § 119 (Originalausg. II. S. 174). "wenn es nötig scheint, durch eine vollständige Induktion beweisen, daß keine einzige von allen, der reinen Logik unbestreitbar angehörigen Lehren, von den Oppositionen und Subordinationen der Begriffe bis zu den Kettenschlüssen, irgendetwas Psychologisches voraussetzen. Die ganze reine Logik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des Inhalts unserer Vorstellungen (obgleich nicht speziell mit diesem Inhalte selbst) zu tun; aber überall nirgends mit der Tätigkeit 40 des Denkens, nirgends mit der psychologischen, also metaphysischen, Möglichkeit desselben. Erst die angewandte Logik bedarf, gerade so wie die angewandte Sittenlehre, psychologischer Kenntnisse, insofern nämlich, als der Stoff seiner Beschaffenheit nach erwogen sein muß, den man den gegebenen Vorschriften gemäß bilden will."

In dieser Hinsicht finden wir manche lehrreiche und wichtige Ausführungen, welche die moderne Logik mehr beiseite geschoben, als ernstlich erwogen hat. Aber auch diese Anknüpfung an Herbarts Autorität will nicht mißverstanden sein. Sie meint nichts weniger als Rückkehr zur Idee und Behandlungsweise der Logik, die Herbart vorgeschwebt, und die sein gediegener Schüler Drobisch in so hervorragender Weise realisiert hat.

Gewiß hat Herbart, besonders in dem oben angezogenen Punkte, in der Betonung der Idealität des Begriffs, große Verdienste. Schon die Prägung seines Begriffes vom Begriff ist ihm hoch anzurechnen, mag man seiner Terminologie nun zustimmen oder nicht. Andererseits aber ist Herbart, wie mir scheinen will, über bloß vereinzelte und unvollkommen gereifte Anregungen nicht hinausgekommen, und durch manche schiefe und leider sehr einflußreich gewordene Gedanken hat er seine besten Intentionen völlig verdorben.

Schon das war schädlich, daß Herbart die fundamentale Äquivokation von Ausdrücken wie Inhalt, Vorgestelltes, Gedachtes, nicht bemerkt hat, wonach sie einerseits den idealen, identischen Bedeutungsgehalt der entsprechenden Ausdrücke, und andererseits das jeweilig vorgestellte Gegenständliche bezeichnen. Das einzig klärende Wort in der Bestimmung des Begriffes vom Begriff hat Herbart, soweit ich sehe, nicht gesprochen, nämlich daß Begriff oder Vorstellung im logischen Sinne nichts anderes ist als die identische Bedeutung der entsprechenden Ausdrücke.

Wichtiger aber ist das Grundversehen Herbarts, vermöge dessen er das Wesentliche der Idealität des logischen Begriffs in seine Normalität setzt. Dadurch verschiebt sich ihm der Sinn der wahrhaften und echten Idealität, der Bedeutungseinheit in der verstreuten Erlebnis-Mannigfaltigkeit. Gerade der fundamentale Sinn der Idealität, nach dem sich Ideales und RealesIn A folgt: als. durch eine unüberbrückbare Kluft scheiden, geht verloren, und der ihm unterschobene der Normalität verwirrt die logischen Grundauffassungen.* Vgl. darüber das Kapitel über die Einheit der Spezies im II. BandeA: Teil.. In nächstem Zusammenhang damit steht, daß Herbart eine erlösende Formel gefunden zu haben glaubt, wenn er die Logik als die Moral für das Denken der Psychologie als der Naturgeschichte des Verstandes gegenüberstellt.** Herbart, Lehrbuch zur Psychologie3, § 180, S. 127 der Sonderausg. 1882. Von der reinen, theoretischen Wissenschaft, die hinter dieser Moral steckt (und ähnlich bei der Moral im gemeinen Sinne), hat er keine Vorstellung und noch weniger von dem Umfange und den natürlichen Grenzen dieser Wissenschaft und von ihrer innigen Einheit mit der reinen Mathematik. Und so trifft in dieser Hinsicht auch Herbarts Logik nicht unberechtigt der Vorwurf der Dürftigkeit, ganz ebenso wie die Kantsche und aristotelisch-scholastische Logik, so sehr sie sich in anderer Hinsicht auch überlegen zeigt durch den Habitus selbsttätiger und exakter Forschung, den sie in ihrem engen Kreise gepflogen hat. Wieder steht in Zusammenhang mit jenem fundamentalen Versehen die Verirrung der Herbartschen Erkenntnistheorie, die sich ganz unfähig zeigt, das scheinbar so tiefsinnige Problem der Harmonie zwischen dem subjektiven Verlauf des logischen Denkens und dem realen der äußeren Wirklichkeit als das zu erkennen, was es ist, und als was wir es späterhin nachweisen werden, nämlich als ein aus Unklarheit erwachsenes Scheinproblem.

All das gilt auch von den Logikern der Herbartschen Einflußsphäre und speziell auch von Lotze, der manche Anregungen Herbarts aufgenommen, mit großem Scharfsinn durchdacht und originell weiter ausgeführt hat. Wir verdanken ihm viel; aber leider finden wir auch seine schönen Anläufe durch die Herbart-sche Verwirrung der spezifischen A: sozusagen platonischen. Die Veränderung in B entspricht den "Berichtigungen" zu A. und normativen Idealität zunichte gemacht. Sein großes logisches Werk, so reich es an originellenA: höchst merkwürdigen. und des tiefen Denkers würdigen Gedanken ist, wird hierdurch zu einem unharmonischen Zwitter von psycholo-gistischer und reiner Logik.*** Die in der ersten Auflage für den Anhang des II. Bandes in Aussicht gestellte Auseinandersetzung mit Lotzes Erkenntnistheorie kam wegen Raummangels nicht zum Abdruck.A: Wir werden im nächsten Bande "Berichtigungen" zu A: in den späteren Teilen des Werkes Gelegenheit nehmen, auf Lotzes erkenntnistheoretische Lehren, zumal auf sein Kapitel von der realen und formalen Bedeutung des Logischen, kritisch einzugehen.

§ 60. Anknüpfungen an Leibniz

Unter den großen Philosophen, auf welche die hier vertretene Auffassung der Logik zurückweist, nannten wir oben auch Leibniz. Ihm stehen wir relativ am nächsten. Auch Herbarts logischen Überzeugungen finden wir uns nur insoweit näher als denjenigen Kants, als er, Kant gegenüber, Leibnizsche Ideen erneuert hat. Aber freilich zeigte Herbart sich nicht fähig, alles Gute, das sich bei Leibniz findet, auch nur annähernd auszuschöpfen. Hinter der Größe der Mathematik und Logik in einsIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. setzenden Konzeptionen dieses ge |waltigen Denkers bleibt er weit zurück. Über die letzteren, von denen wir uns besonders sympathisch berührt fühlen, einige Worte.

Das treibende Motiv zu Beginn der neueren Philosophie, die Idee einer Vervollkommnung und Neugestaltung der Wissenschaften, führteA: führt. auch bei Leibniz zu unablässigenA: unermüdlichen. Bemühungen um eine reformierte Logik. Aber einsichtiger als seine Vorgänger, faßt er die scholastische Logik, statt sie als hohlen Formelkram zu verunglimpfen, als eine wertvolle Vorstufe der wahren Logik, welche trotz ihrer Unvollkommenheit dem Denken wahre Hilfen zu bieten vermöchte.* Vgl. z.B. Leibnizens ausführliche Verteidigung der traditionellen Logik — obschon sie "kaum ein Schatten" derjenigen sei "so er wünsche" — im Schreiben an Wagner, Opp. philos., Erdm., 418 ff. Ihre Fortbildung zu einer Disziplin von mathematischer Form und Strenge, zu einer universellen Mathematik in einem höchsten und umfassendsten Sinne, ist ein Ziel, dem er immer neue Anstrengungen opfert.

Ich folge hier den Andeutungen in den Nouveaux Essais, L. IV, ch. XVII. Vgl. z. B. § 4, Opp. phil., Erdm. 395a, wo die Lehre von den syllogistischen Formen, erweitert zur ganz allgemeinen Lehre von den"argumens en forme", bezeichnet wird als "une espèce de Mathématique universelle, dont l'importance n’est pas assez connue." "II faut savoir", heißt es dort, "que par les argumens en forme je n’entends pas seulement cette manière scolastique d’argumenter, dont on se sert dans les collèges, mais tout raisonnement qui conclut par la force de la forme, et où l’on n’a besoin de suppléer aucun article; de sorte qu’un sorites, un autre tissu de syllogisme, qui evite la répétition, même un compte bien dressé, un calcul d'Algèbre, une analyse des infinitésimales me seront à peu près des argumens en forme, puisque leur forme de raisonner a été prédémontrée, en sorte qu’on est sûr de ne s’y point tromper." Die Sphäre der hier konzipierten Mathématique universelle wäre also sehr viel weiter als die Sphäre des logischen Kalküls, mit dessen Konstruktion sich Leibniz viel mühte, ohne damit ganz zu Rande zu kommen. Eigentlich müßte Leibniz unter diese allgemeine Mathematik die ganze Mathesis universalis im gewöhnlichen quantitativen Sinne mitbefassen (welche Leibnizens engsten Begriff von Mathesis universalis ausmacht), zumal er die rein mathematischen Argumente auch sonst wiederholt als "argumenta in forma" bezeichnet hat. Desgleichen müßte aber auch dahin gehören die Ars combinatoria, seu Speciosa generalis, seu doctrina de formis abstracta (vgl. die mathematischen Schriften der Pertzschen Ausgabe Bd. VII, S. 24, 49 ff., 54, 159, 205 ff., u. ö.), die den fundamentalen Teil der Mathesis universalis in einem weiteren, aber nicht in dem obigen weitesten Sinne ausmacht, während diese selbst von der Logik als subordiniertes Gebiet unterschieden wird. Die für uns besonders interessante Ars combinatoria definiert Leibniz a. a. O. VII, S. 61 als "doctrina de formulis seu ordi-nis, similitudinis, relationis etc. expressionibus in Universum". Sie wird hier als scientia generalis de qualitate der scientia generalis de quantitate (der allgemeinen Mathematik im gewöhnlichen Sinn) gegenübergestellt. Vgl. dazu die wertvolle Stelle in Gerhardts Ausgabe der philos. Schriften, Bd. VII, S. 297 f.: "Ars Combinatoria speciatim mihi illa est scientia (quae etiam generaliter characteristica sive speciosa dici posset), in qua tractatur de rerum formis sive formulis in universum, hoc est de qualitate in genere sive de simili et dissimili, prout aliae atque aliae formulae ex ipsis a, b, c etc. (sive quantitates sive aliud quod-dam repraesentent) inter se combinatis oriuntur, et distinguitur ab Algebra quae agit de formulis ad quantitatem applicatis, sive de aequali et inaequali. Itaque Algebra subordinatur Combinatoriae, ejusque regulis continue utitur, quae tamen longe generaliores sunt, nec in Algebra tan-40 tum sed et in arte deciphratoria, in variis ludorum generibus, in ipsa geometria lineariter ad veterum morem tractata, denique in omnibus ubi similitudinis ratio habetur locum habent." — Die seiner Zeit so weit vorauseilenden Intuitionen Leibnizens erscheinen dem Kenner der modernen "formalen" Mathematik und der mathematischen Logik als 45 scharf begrenzt und in hohem Grade bewundernswert. Letzteres betrifft, wie ich aus|drücklich bemerke, auch Leibnizens Fragmente über die scientia generalis bzw. den calculus ratiocinator, aus welcher Trendelenburgs elegante, aber an der Oberfläche haftende Kritik so wenig Brauchbares herauslesen konnte. (Historische Beiträge zur Philosophie, Bd. III.)

Zugleich weist Leibniz in wiederholten und nachdrücklichen Äußerungen auf die Notwendigkeit einer Erweiterung der Logik um eine mathematische Theorie der Wahrscheinlichkeiten hin. Er verlangt von den Mathematikern eine Analysis der Probleme, welche die Glücksspiele in sich bergen, und erwartet davon große Förderungen des empirischen Denkens und dessen logischer Kritik.* Vgl. z.B. Nom. Ess. L. IV, ch. XVI, § 5, Opp. phil., Erdm., S. 388 f.; L. IV, ch. II, § 14, a. a. O., S. 343. Vgl. auch die Fragmente zur scientia generalis, a. a. O., S. 84, 85 usw. Kurz, Leibniz hat die großartigen Erwerbungen, welche die Logik seit Aristoteles zu verzeichnen hat, die Theorie der Wahrscheinlichkeiten und die erst in der zweiten Hälfte des 19.A: dieses. Jahrhunderts herangereifte mathematische Analyse der (syllogistischen und asyllogistischen) Schlüsse, in genialen Intuitionen vorausgesehen. Er ist durch seine Combinatoria auch der geistige Vater der reinen Mannifaltigkeitslehre, dieser der reinen Logik nahestehenden, ja mit ihr innig vereinten Disziplin. (Vgl. unten § 69 und 70, S. 247ff.).

Mit alledemA: all dem. steht Leibniz auf dem Boden jener Idee der reinen Logik, für die wir hier eintreten. Nichts liegt ihm ferner als der Gedanke, daß die wesentlichen Grundlagen einer fruchtbaren Erkenntniskunst in der Psychologie liegen möchten. Sie sind nach ihm gänzlich a priori. Sie konstituieren ja eine Disziplin von mathematischer Form, die als solche, ganz so wie etwa die reine Arithmetik, den Beruf zur praktischen Erkenntnisregelung ohne weiteres in sich schließt.** So koinzidiert z.B. nach Leibniz die Mathesis universalis in dem engsten Sinn mit der Logica Mathematicorum (Pertz, a. a. O., Bd. VII, S. 54), während er diese (auch Logica Mathematica genannt, a. a. O., S. 50) als Ars judicandi atque inveniendi circa quantitates definiert. Dies überträgt sich natürlich auf die Mathesis universalis im weiteren und weitesten Sinne.

§ 61. Notwendigkeit von Einzeluntersuchungen zur erkenntniskritischen Rechtfertigung und partiellen Realisierung der Idee der reinen Logik

Doch man wird Leibnizens Autorität noch weniger gelten lassen als diejenige Kants oder Herbarts, zumal er den großen Intentionen nicht das Gewicht durchgeführter Leistungen zu geben vermochte. Er gehört einer vergangenen Epoche an, über welche die neue Wissenschaft weit fortgeschritten zu sein glaubt. Autoritäten wiegen überhaupt nicht schwer gegen eine breit ausgeführte und vermeintlich ergebnisreiche und gesicherte Wissenschaft. Und ihre Wirkung muß um so geringer sein, als bei ihnen ein hinreichend abgeklärter und positiv ausgebauter Begriff von der fraglichen Disziplin fehlt. Es ist klar: Wollen wir nicht auf halbem Wege stehen bleiben und unsere kritischen Überlegungen nicht der Gefahr der Unfruchtbarkeit aussetzen, so müssen wir uns der Aufgabe unterziehen, die Idee der reinen Logik auf hinreichend breiter Basis zu konstruieren. Nur dadurch, daß wir in sachhaltigen Einzelausführungen eine genauer umrissene Vorstellung von dem Gehalt und Charakter ihrer wesentlichen Untersuchungen bieten und ihren Begriff bestimmter herausarbeiten, können wir das Vorurteil beseitigen, als ob sie es mit einem geringfügigen Gebiet von ziemlich trivialen Sätzen zu tun habe. Wir werden im Gegenteil sehen, daß die Ausdehnung der Disziplin sehr beträchtlich ist, und zwar nicht bloß im Hinblick auf ihren Gehalt an systematischen Theorien, sondern vor allem im Hinblick auf die schwierigen und wichtigen Untersuchungen, welche für ihre philosophische Grundlegung und Schätzung erforderlich sind.

Übrigens wäre die vermeintliche Geringfügigkeit des rein logischen Wahrheitsgebietes für sich allein kein Argument für seine Behandlung als eines bloßen Behelfes der logischen Kunstlehre. Es ist ein Postulat des rein theoretischen Interesses, das, was in sich eine theoretisch geschlossene Einheit bildet, auch in dieser theoretischen Geschlossenheit, und nicht als bloßen Behelf für außenliegende Zwecke, darzustellen. Haben übrigens die bisherigen Untersuchungen zum mindesten dies klargestellt, daß ein richtiges Verständnis des Wesens der reinen Logik und ihrer einzigartigen Stellung zu allen anderen Wissenschaften eine der wichtigsten FragenIn A folgt: , wo nicht gar die wichtigste. der ganzen Erkenntnistheorie aus|macht, so ist es auch ein vitales Interesse dieser philosophischen Fundamentalwissenschaft, daß die reine Logik in ihrer Reinheit und Selbständigkeit wirklich dargestellt werde.In A folgt: Ja, ich wüßte nicht, inwiefern die Erkenntnistheorie überhaupt den Namen einer vollen Wissenschaft verdiente, wenn nicht die gesamte reine Logik als ihr Bestandstück, bzw. umgekehrt, wenn nicht die erkenntnistheoretische Forschung als philosophischer Annex zur reinen Logik gefaßt werden dürfte. Natürlich müßte die Erkenntnistheorie nur nicht als eine Disziplin verstanden werden, welche der Metaphysik nachfolgt oder gar mit ihr koinzidiert, sondern welche ihr, wie der Psychologie und allen anderen Disziplinen, vorhergeht.

Anhang

Hinweise auf F. A. Lange und B. Bolzano.

Wie weit der Abstand auch ist, der meine Auffassung der Logik von derjenigen F. A. Langes trennt, darin bin ich mit ihm einig und sehe ich ein Verdienst um unsere Disziplin, daß er in einer Zeit vorherrschender Unterschätzung der reinen Logik mit Entschiedenheit für die Überzeugung eingetreten ist, daß "die Wissenschaft von dem Versuch einer abgesonderten Behandlung der rein formalen Elemente der Logik eine wesentliche Förderung zu erwarten habe".* F. A. Lange, Logische Studien, S. 1. Die Beistimmung reicht noch weiter, sie betrifft dem Allerallgemeinsten nach auch die Idee der Disziplin, die Lange freilich nicht zu wesenhafter Klarheit zu bringen vermochte. Nicht ohne Grund gilt ihm die Absonderung der reinen Logik als Auslösung derjenigen Lehren, die er als "das Apodiktische der Logik" bezeichnet, nämlich "diejenigen Lehren, welche sich, gleich den Lehrsätzen der Mathematik, in absolut zwingender Weise entwickeln lassen ..." Und sehr beherzigenswert ist, was er dann beifügt: "Die bloße Tatsache des Vorhandenseins zwingender Wahrheiten ist eine so wichtige, daß jede Spur derselben sorgfältig verfolgt werden muß. Eine Unterlassung dieser Untersuchung wegen des geringen Wertes der formalen Logik oder wegen ihrer Unzulänglichkeit als Theorie des menschlichen Denkens müßte von diesem Standpunkte aus zunächst schon als Verwechslung theoretischer und praktischer Zwecke zurückgewiesen werden. Ein solcher Einwand wäre etwa so anzusehen, wie wenn ein Chemiker sich weigern wollte, einen zusammengesetzten Körper zu analysieren, weil derselbe in seinem zusammengesetzten Bestande sehr wertvoll sei, während die einzelnen Bestandteile voraussichtlich gar keinen Wert hätten."* a. a. O., S. 7 f. Ebenso richtig heißt es an einer anderen Stelle: "Die formale Logik hat als apodiktische Wissenschaft einen Wert, der von ihrer Nützlichkeit ganz unabhängig ist, da jedem System a priori gültiger Wahrheiten die höchste Beachtung zukommt."** a. a. O., S. 127.

Während Lange für die Idee einer rein formalen Logik so warm eintrat, hatte er keine Ahnung, daß sie längst schon in relativ hohem Maße realisiert war. Ich meine natürlich nicht die vielen Darstellungen der formalen Logik, welche zumal in den Schulen Kants und Herbarts erwuchsen, und welche den Ansprüchen, die sie erhoben, nur zu wenig entsprachenA: die Ansprüche, die sie erhoben, nur zu wenig befriedigten.; wohl aber Bernhard Bolzanos Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1837, ein Werk, das in Sachen der logischen "Elementarlehre" alles weit zurückläßt, was die Weltliteratur an systematischen Entwürfen der Logik darbietet. Zwar hat Bolzano die selbständige Abgrenzung einer reinen Logik in unserem Sinne nicht ausdrücklich erörtert und befürwortet; aber de facto hat er sie in den beiden ersten Bänden seines Werkes, nämlich als Unterlage einer Wissenschaftslehre im Sinne seiner Auffassung, in einer Reinheit und wissenschaftlichen Strenge dargestellt und mit einer solchen Fülle von originellen, wissenschaftlich gesicherten und jedenfalls fruchtbaren Gedanken ausgestattet, daß er um dessentwillen als einer der größten Logiker aller Zeiten wird gelten müssen. Historisch ist er in ziemlich nahe Beziehung zuA: Seiner Stellung nach ist er dicht neben. Leibniz zu setzen, mit dem er wichtige Gedanken und Grundauffassungen teilt, und dem er philosophisch auch sonst zunächst steht. Freilich hat auch er den Reichtum der logischen Intuitionen Leibnizens nicht ganz ausgeschöpft, zumal nicht in Hinsicht auf die mathematische Syllogistik und die mathesis univer-salis. Doch war vom Nachlaß Leibnizens damals noch zu wenig bekannt, und es fehlte die "formale" Mathematik und Mannigfaltigkeitslehre als der Schlüssel des Verständnisses.

Mit jeder Zeile bewährt sich Bolzano in seinem bewundernswerten Werke als der scharfsinnige Mathematiker, der in der Logik denselben Geist wissenschaftlicher Strenge walten läßt, den er selbst als der erste in die theoretische Behandlung der Grundbegriffe und Grundsätze der mathematischen Analysis eingeführt, und die er hierdurch auf eine neue Basis gestellt hat: ein Ruhmestitel, den einzuzeichnen die Geschichte der Mathematik nicht vergessen hat. Von der tiefsinnigen Vieldeutigkeit der SystemphilosophieA: System-Philosophie., welche mehr darauf ausging, gedankenvolle Weltanschauung und Weltweisheit als theoretisch-analysierendes Weltwissen zu sein, und in unseliger Vermengung dieser grundverschiedenen Intentionen den Fortschritt der wissenschaftlichen Philosophie so sehr hemmte, finden wir bei Bolzano — dem Zeitgenossen Hegels — keine Spur. Seine Gedankenbildungen sind von mathematischer Schlichtheit und Nüchternheit, aber auch von mathematischer Klarheit und Strenge. Erst ein tieferes Eingehen auf Sinn und Zweck dieser Bildungen im Ganzen der Disziplin enthüllt, welch große Geistesarbeit und Geistesleistung in den nüchternen Bestimmungen oder den formelhaften Darstellungen steckt. Dem in den Vorurteilen, in den Denk- und Sprechgewohnheiten der idealistischen Schulen erwachsenen Philosophen — und so ganz sind wir alle noch nicht ihren NachwirkungenA: ihren Nachwirkungen sind wir alle noch nicht. entwachsen — erscheint dergleichen wissenschaftliche Art gar leicht als ideenlose Seichtigkeit oder auch als Schwerfälligkeit und Pedanterie. Aber auf Bolzanos Werk muß sich die Logik als Wissenschaft aufbauen, aus ihm muß sie lernen, was ihr nottut: mathematische Schärfe der Unterscheidungen, mathematische Exaktheit in den Theorien. Sie wird dann auch einen anderen Standpunkt für die Schätzung der "mathematisierenden" Theorien der Logik gewinnen, welche die Mathematiker, um die philosophische Mißachtung unbekümmert, so erfolgreich aufbauen. Denn dem Geist der Bolzanoschen Logik fügen sie sich durchaus ein, obschon Bolzano selbst sie noch nicht geahnt hat. Jedenfalls wird einem künftigen Geschichtsschreiber der Logik nicht mehr das Versehen des sonst so gründlichen Ueberweg unterlaufen dürfen, ein Werk vom Range der Wissenschaftslehre auf eine Stufe zu stellen mit — Knigges Logik für Frauenzimmer.* Von beiden weiß nämlich Überweg gleich viel Nennenswertes zu sagen: den Titel. Im übrigen wird man dereinst auch eine Geschichtsbehandlung der Logik, die sich, wie die Überwegsche, nach den "großen Philosophen" orientiert, als sonderbare Anomalie empfinden

So sehr Bolzanos Leistung aus einemIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. Gusse ist, so wenig kann sie (ganz im Sinne des grundehrlichen Denkers selbst) als endgültig abschließende angenommen werden. Um hier nur einesIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. zu erwähnen, so sind besonders empfindlich die Mängel in erkenntnistheoretischer Richtung. Es fehlen (oder es sind ganz unzureichend) die Untersuchungen, welche die eigentlich philosophische Verständlich-machung der logischen Denkleistungen, und damit die philosophische Schätzung der logischen Disziplin selbst, betreffen. Diesen Fragen kann allenfalls der Forscher ausweichen, der in sicher abgegrenztem Gebiet, wie der Mathematiker, Theorie auf Theorie baut, ohne sich um die Prinzipienfragen viel kümmern zu müssen; nicht aber, wer vor der Aufgabe steht, demjenigenA: dem., der die Disziplin gar nicht sieht und gelten läßt oder ihre wesentlichen Aufgaben mit heterogenen vermengt, das Eigenrecht einer solchen Disziplin und das Wesen ihrer Gegenstände und Aufgaben klarzumachen. Überhaupt wird der Vergleich der vorliegenden logischen Untersuchungen mit dem Werke Bolzanos lehren, daß es sich bei ihnen keineswegs um bloße Kommentationen oder kritisch nachbessernde Darstellungen Bolzanoscher Gedankenbildungen handelt, obschon sie andererseits entscheidende AnstößeA: die entscheidenden Einflüsse. von Bolzano — und außerdemA: daneben. von Lotze — empfangen haben.

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First Edition
(1900) "Schluss der kritischen Betrachtungen", in: Husserl Edmund, Logische Untersuchungen. Erster Theil, Halle (Saale), Niemeyer, pp.211-227.